Marie Madeleine Marguerite de Montalte ist Künstlerin und eine berühmte Modedesignerin. Ihre extravaganten Kreationen, darunter ein Kleid aus Honig, Höhepunkt einer Modenschau in Tokio, sorgen für Aufsehen und werden in Museen weltweit ausgestellt. Der Ich-Erzähler nennt sie anfangs „MoMa“. Jean-Philippe Toussaint hat mit der Figur der Marie, ein Anagramm von aimer, eine zeitlose Metapher für die Kunst, die Literatur, die Liebe und das Leben entworfen. Sein Buch M.M.M.M. oder Marie Madeleine Marguerite de Montalte zeichnet vier Jahreszeiten im Leben von Marie nach: Faire l’amour im Winter; Fuir im Sommer; La Vérité sur Marie im Frühling und schließlich Nue im Herbst. Seine Marie ist eine Frau von Welt, busy, kapriziös und leidenschaftlich – alles dreht sich für den namenlosen Erzähler um sie. Wie die Gezeiten folgt ihre Liebe einem Kommen und Gehen, Suchen, Finden, sich Verfehlen, wieder Zueinanderfinden.
Nach ihrem ersten Stück Ne me touchez pas (2023) hat Laura Bachman sich dem Kultwerk des belgischen Romanciers zugewandt und es für die Bühne adaptiert. Schon zu Beginn stellt sich die Zuschauerin die Frage: Wie Bewegungen für präzise Worte finden, der Prosa eines Schriftstellers wie Toussaint beikommen? Sein Werk hat eine tiefe physische und kinematografische Dimension. Daran knüpft Laura Bachman an. Ihre verspielt-furiose Choreografie zeigt: M.M.M.M. ist mehr als eine Liebesgeschichte. Ist es in der Romanvorlage der Erzähler, so gibt Bachman Marie hier erstmals eine Stimme. Zunächst betritt eine androgyne Tänzerin die Bühne, selbstsicher und zugleich seltsam verunsichert. Genüsslich rauchend, greift sie sich ans Geschlecht, bewegt sich tanzend – bis eine andere Tänzerin (Marie) die Bühne betritt, enigmatisch und geheimnisvoll.
Sie legt sich lasziv auf die Bühne, den Mund weit aufgerissen vor Lust, streckt sich, dreht sich im Kreis. Schnell sind es mehrere Maries, verschiedene Entwürfe einer Frau, die die Bühne betreten, fünf Tänzer/innen, alle in denselben blauen Kleidern, mit derselben blonden Perücke, bis eine Stimme aus dem Off erklingt, die Maries vollen Namen ausspricht. Zu pulsierenden Beats umzingeln und umgarnen die Tänzer/innen einander, um irgendwann in alle Richtungen auszuscheren. Dann ein gellender Schrei: Commençons par faire l’amour, der Titel des Stücks erscheint in großen weißen Lettern auf einer Leinwand wie zu Beginn eines Films.
Wenn sich die Tänzer/innen räkeln und zu Lichtern an den Bühnenrändern ins Mikrofon hauchen, wähnt man sich atmosphärisch wie in einer Show von Serge Gainsbourg. Die Figuren frieren nah an der Schizophrenie fast ein. Toussaints Romane behält man im Hinterkopf: In seiner Tetralogie begleiten wir ein Paar, das sich liebt, trennt, vermisst und wiederfindet. Der Erzähler bleibt stets im Hintergrund, während Marie im Rampenlicht steht.
In Bachmans Choreografie mimen die Paare das Spiel der Liebe bis ins Unerschöpfliche: Es ist ein sich Herantasten, ein Mäandern zwischen Anziehung, (Un-)Verständnis und Abstoßen. Ein starkes Bild etwa, wenn die Marien immer wieder an ihren Partnern abrutschen, ihnen aus den Armen gleiten. In einem nächsten Bild werden sich zwei Paare auf Stühlen gegenübersitzen – sie, die doppelte Marie, im rosa Höschen, schüttelt sich vor Lachen zwischen Freude, Zynismus und weiblicher Überlegenheit.
Zu Unkengeräuschen werden sich die Tänzer/innen für einen Augenblick finden, in kurzen Momenten des Glücks beieinander verharren, um wieder auszuscheren und wie im Traum zu wandeln. „Ich konnte nicht sagen, dass ich ihn liebe, und doch gibt es nichts Präziseres“, wird Marie von sich geben, bevor sie sich in einem Lichtstreifen um die eigene Achse dreht und zu Ping-Pong-Geräuschen, dem Klacken eines Tischtennisballs, in ekstatische Zuckungen verfällt.
Die Tänzer/innen schütteln sich, als bebe die Erde. Nach dem Fallen rappeln sie sich wieder auf und rüsten sich erneut zum Kampf um Liebe und Leidenschaft.
Im flimmernden Licht und zu elektrisierenden Beats fallen die Figuren in sich zusammen, die Beats fahren durch ihre zuckenden Körper „Nous nous aimions, mais nous ne nous supportions plus. Il y avait ceci, dans notre amour, que, même si nous continuions à nous faire plus de bien que de mal, le peu de mal que nous nous faisions était devenu insupportable“, schreibt Toussaint. Marie springt am Ende ins Nichts.
Laura Bachman befreit Marie damit vom männlichen Blick des Autors, der mit seinem Romanzyklus zwar eine starke, vielschichtige Frauenfigur gezeichnet hat, doch eine femme fatale, nicht frei von Stereotypen. Marie steht irgendwann nackt, ja entblößt in einem Lichtkegel vor dem Publikum. Durch die (Ge-)Zeiten schwebend, ist sie am Ende der Leidenschaft allein. So verschwimmen die Grenzen zwischen den Genres (wie auch Gendergrenzen) in Bachmans Choreografie tatsächlich. Sie hieß de Montalte, Marie de Montalte, Marie Madeleine Marguerite de Montalte. Sie ist eine einzigartige Frau und ist doch wie alle Frauen, universell in ihrem Leiden und Lieben.
Toussaints Werk ist Ausgangspunkt und Leitmotiv für Bachmans berauschende Choreografie, die die Zuschauer/innen für eine gute Stunde in eine Traumwelt entführt, sie mitreißt und verstört. Marie aber tanzt allein, der Sonne entgegen, dem Leben zu.