Einst waren sie die Provokateure. Zehn Jahre, nach Independent Little Luxembourg (ILL), das Frédérique Colling und Jacques Schiltz in Zusammenarbeit mit Linda Bonvini und Yannick Géraud zum 20. Geburtstag von ILL auf die Bühne brachten, präsentiert das Kollektiv sein neues Stück Kleng Ligen iwwer Onofhängegkeet.
Denn am 14. November feiert das Theaterkollektiv im Ariston, der Kinderbühne des Escher Theaters, sein 30-jähriges Bestehen. Dann wird ein Dokumentarfilm von Anne Schiltz die Entstehung des Kollektivs rekonstruieren und die Gläser werden klirren.
Der Saal im Aal Stadhaus in Differdingen bietet keinen dankbaren Rahmen für ein Theaterstück. Doch das Kollektiv ILL ist routiniert darin, an ungewöhnlichen Orten zu spielen. Es wächst über die Räume hinaus, so wie schon in Hallen der Stahlindustrie in Schifflingen. Ohnehin bietet es Möglichkeitsräume – ein Gegenentwurf zu den großen Bühnen, an denen sich der Theaterbetrieb zumindest nach außenhin blinkend und wie geschmiert präsentiert.
Im Sommer 1995 fand sich ein halbes Dutzend Jugendlicher zusammen und beschloss, dem Kulturjahr ohne größere finanzielle Hilfe etwas Alternatives entgegenzusetzen. Indem es auf politisches Kabarett setzt, kehrt das Künstlerkollektiv zu seiner Urform zurück. Und siehe da, trotz bescheidener Requisite, es wirkt.
Es beginnt staatstragend – so als würde Mister Burns alias Luc Frieden ans Mikro treten und die Lage der Nation erklären: „Dir Dammen an Dir Hären, mir si frou, datt Der zu sou vill komm sidd, well d’Lag vun eisem Land ass eescht.“
Vor rund zwei Jahrhunderten sei der Vertrag von London unterschrieben worden ... Naja, nicht ganz. Dann werden 200 Jahre Unabhängigkeit gefeiert, 200 Jahre Identität. 2039 ist es soweit. Woraus aber besteht die Identität, zumal die Luxemburger?
Hundert Jahre Unabhängigkeit wurden gefeiert, denn seinerzeit standen die Nazis vor der Tür, erfährt man im Stück. Und es sei darum gegangen, dem Feind zu zeigen, was wir sind: „E Land mat enger eegener Identitéit, mat enger eegener Geschicht, mat Kultur, Kachkéis a Kniddelen“, abgekürzt KKK.
Man wolle ja sicher nicht, dass es wieder ein schlecht organisiertes und elitäres Dëppefest wird, dass jedem auf die Nerven geht, bevor es überhaupt angefangen hat. – So wie Esch2022. Und ILL versprechen: An diesem Abend werden sie alle aufgedeckt, die kleinen Lügen über Unabhängigkeit!
In eineinhalb Stunden spielen sich Jacques Schiltz und Frédérique Colling gewitzt die Bälle zu und rekapitulieren die Schlüsseletappen der Vergangenheit. Von vorneherein wird die vierte Wand durchbrochen, die Schwierigkeit, die Geschichte der Nation, beziehungsweise die Meistererzählung, auf die Bühne zu bringen, wird offen verhandelt.
Wo anfangen? Mit der Unabhängigkeit Luxemburgs: der vom holländischen König Wilhelm; der Unabhängigkeit von Belgien. 1815 – als Luxemburg ein Großherzogtum wird? Oder 1789 mit dem Klëppelkrich? Oder wie Schiltz fragend in den Raum wirft: „1443 – d’Elisabeth verdünniséiert sech? 1346 – de blanne Jhang blaméiert sech?“ Oder im Jahr 1244 – „D’Ermesinde schreift Fräiheetsbréifer?“
„963 – Lëtzebuerg kroch aus dem Ei“, dieser Satz werde doch jedem Schulkind eingetrichtert. Natürlich wird auch an den Mythos der Melusina angeknüpft. Zu dankbar die Sage um die schöne Frau, die sich halb Nixe in die Alzette stürzte und seitdem durch ihren Gesang betört.
Zum Kringeln ist auch die dritte Szene Siegfried. Was heute die Stadt Luxemburg ist, war einst ein karges Stück Land, verwaist und leer (aber mit Bodenschätzen), das nur darauf gewartet habe, dass irgendein „Trëllert“ es kauft – so wie Grönland.
In der Szene spielt Colling eine Frau vom Katasteramt aus Trier, die in herrlichem Platt Akteneinsicht „wat d’Geschäft vum Bockfels ugeet“ fordert. Siegfried (Schiltz) holt kleinlaut das Zertifikat, indes die spießige Deutsche ihm „Unregelmäßigkeiten“ bei der Ausstellung der Urkunde vorhält.
Die Luxemburger würden es mit den „Donnéeën“ nicht so genau nehmen. Bei ihnen am Kataster sei sogar schon öfter der Begriff „Fälscherhéichbuerg“ gefallen. Beruhen Rulings und Steuerhinterziehung am Ende auf einer Jahrhunderte alten Tradition?
In der fünften Szene sitzt Jhang de Blannen beim Arzt und bittet um ein Attest, das ihm bescheinigt, dass er „fit genug ist für den Krieg“, und verrät dort am Ende seine Vision von einem Ort, an dem sich jeder auf ein Pferd setzen und herumschunkeln lassen kann, und wo es Waffeln bei Jean, la Veugle gibt: die Idee der Schueberfouer ist geboren.
Etwas verwirrend die Szene Occupanten. Da sind die beiden bereits durch vier Jahrhunderte Lëtzebuerger Geschichte gesaust und sind sich einig: „Mee Ier mer zur Lëtzebuerger Onofhängegkeet kommen, kënnt d’Zäit vun der Friemherrschaft.“ Ein strittiger Begriff, der heute nicht mehr von Historikern benutzt werde. „Et woar jo keng klassesch Occupatioun“, weiß Colling.
„Ah. Keng klassesch Occupatioun! Sou wéi a Palästina? Wat seet een dann elo haut? Territoriale Besëtzusproch vun net lokal-native Matbierger?“, fragt Schiltz. Eine Passage, die verärgert, reproduziert sie doch ohne Gedanken und letztlich selbstgerecht die aktuell gängigen Vorurteile, die hierzulande vor allem sogenannte Linke internalisiert haben.
Die Schlüsseletappen der luxemburgischen Geschichte werden abgefeiert. Bei den ständigen Wechseln der Herrscher hilft im Klassensaal schließlich eine Eselsbrücke: „BSFSE“. Die Abkürzung hat nichts mit Rinderwahnsinn zu tun, sondern hilft einem tatsächlich, die ständigen Wechsel der Herrschaften zu verstehen: „Baueren – Burgunder. Sichen – Spuenesch Habsburger. Fläisseg – Fransousen. Säfteg – Spuenesch Habsburger. Ennen – Eisträichech Habsburger.“
In einem „Sproochekuer“ wird in der siebten Szene, im Jahr 1714, schließlich brockenhaft Spanisch gelehrt und es mündet in der Empfehlung, man solle sich schon mal auf die Herrschaft der Österreicher vorbereiten – die Absurdität der Phrase (aus dem Feierwon) Mir wëlle bleiwe, wat mir sinn, wird vor Augen geführt.
Von der Performance ist die Szene über den Klöppelkrieg eine der satirisch gelungensten. 2 000 Patrioten marschieren darin auf die Stad Lëtzebuerg zu, um sie von der „französischen Tyrannei“ zu befreien. Schluss mit den Reformen, die die Monarchie abschaffen wollten!
Das Fazit: Der Klëppelkrich habe seinen Platz in den Köpfen der Luxemburger, in der Mythologie und in unserer Geschichtsschreibung wohl verdient. Immerhin sei es bis heute der größte Widerstand, den Lëtzebuerger oder damals sowas wie Luxemburger je gegen Fremdherrscher geleistet haben.
Es fühle sich widersprüchlich an, sich einerseits über die Unstimmigkeiten, Lügen und die Lächerlichkeit der Historiographie im Meisternarrativ eines Nationalmythos lustig zu machen und andererseits genau dieser Chronologie zu folgen, mit vermeintlichen Schlüsselmomenten und Kausalketten, gibt Colling zu bedenken. Oder aber man lege die Vorlage von Gilbert Trausch zu Grunde und mache einfach blöde Witze!
Das ist angesichts des Wortwitz und der Selbstreflexion tiefgestapelt. Denn Kleng Ligen iwwer Onofhängegkeet hält zumindest geschichtskundige Lëtzebuerger aufgrund der klugen Ironie in Atem. Die launige Performance lässt sich in weiten Teilen aufgeweckt genießen und über die meisten Witze beherzt lachen.
Am Ende wird das Maulkorbgesetz zum Maulwurfgesetz, der Mythos der Resistenz gebrochen, indem eine Bäckereiverkäuferin im vorauseilenden Gehorsam einem Gestapo-Offizier metaphorisch in den Arsch kriecht und lauthals ihren Nachbarn denunziert.
Das ist politisches Kabarett mit Niveau, das wohl – nicht zuletzt wegen der luxemburgischen Sprache – keine breiten Massen ansprechen dürfte. Dass das Stück dennoch nicht elitär wirkt, ist vor allem dem wunderbaren Spiel der beiden Darsteller/innen zu verdanken. Jacques Schiltz, vor allem aber Frédérique Colling liefern ohne viel Klimbim eine durch und durch schräg-witzige Darbietung, bei der kein Auge trocken bleibt. Auf die nächsten 30 Jahre ILL, alors! p