Der Staat pumpt Millionen Steuergelder in Ausbau und Verbesserung von Betreuungsangebot und Gratis-Sprachförderung. Wie gut deren Qualität tatsächlich ist, behält er für sich

Eltern im Nebel

d'Lëtzebuerger Land vom 02.08.2019

Sie ist die Boom-Branche Luxemburgs: Mehr als 410 Millionen Euro investierte der Staat allein im vergangenen Jahr in die außerfamiliäre Kinderbetreuung und Gratis-Sprachförderung. Fast 60 000 Kinder profitierten 2018 von den Dienstleistungsschecks (Chèques services). Außer Steuergeld für Kindergärten und Tageseltern auszugeben, bemüht sich der Staat seit einiger Zeit verstärkt, die Qualität und die sprachliche Frühförderung im Kinderbetreuungsbereich zu verbessern. Wichtigstes Instrument: die Reform des Jugendgesetzes, das im April 2016 in Kraft trat und ein ganzes Maßnahmenpaket zur Qualitätssicherung schnürte.

Seither gilt: Wer als Betreiber einer privaten oder kommunalen Kindertagesstätte oder als Tagesmutter/-vater von staatlichen Subventionen profitieren will, verpflichtet sich, die Vorgaben des nationalen Rahmenplans zur non-formalen Bildung im Kindes- und Jugendalter umzusetzen. Der vom Erziehungsministerium erstellte Plan erfasst auf 165 Seiten alle Aspekte im Betreuungsalltag: von der Pädagogik, also Erziehungszielen und „Wertorientierungen“, die ErzieherInnen vermitteln sollen, über Methoden und Anforderungen der bilingualen französisch-luxemburgischen GratisSprachförderung, bis hin zur Ernährung und entwicklungsfördernden Aktivitäten. Dies altersgerecht unterteilt, also für Kleinkinder von null bis vier Jahren, Vorschulkinder und Schulpflichtige von sechs bis zwölf Jahren.

Rahmenplan für mehr Qualität Das Problem: Die Leitlinien werden von manchen Einrichtungen offenbar vorbildlich umgesetzt, von anderen eher als grobe Handlungsanleitung verstanden – wenn sie denn überhaupt gelesen werden. Mal fehlen pädagogische Konzepte, mal ist das Angebot in den erforderlichen Aktivitätsbereichen lückenhaft, das gilt besonders für Naturwissenschaft und Technik, Werteerziehung, Mitbestimmung und Demokratie.

Eltern haben indes nach wie vor große Mühe, die Qualität des Betreuungsangebots realistisch einzuschätzen – im Vorfeld, bevor sie ihr Kind anmelden. Wohl sind staatlich subventionierte Kindergärten verpflichtet, dem Rahmenplan zu folgen und im pädagogischen Konzept zu beschreiben, wie sie die Leitlinien umsetzen. Doch ob das geschieht und wie gut, darüber können sich Eltern nur bedingt ein Bild machen und meistens erst, wenn ihr Kind bereits in der Krippe ist und sie die Realität vor Ort hautnah erleben. Wie dann schwarze Schafe rechtzeitig erkennen und meiden? Erfahrungsberichte über gute – oder schlechte – Tageseltern und Kindergärten werden in Facebook-Gruppen hoch gehandelt.

Vor allem bei Privatanbietern kommt es vor, dass pädagogischer Ansatz und Eckdaten zu Angebot und Qualifikation nicht zugänglich sind. Dann tauchen auf einmal Fotos aus Kindergärten auf, die von lückenhaften Luxemburgisch-, oder Französischkenntnissen und mieser Rechtschreibung zeugen und ernsthafte Zweifel an der Kompetenz zur sprachlichen Frühförderung aufkommen lassen. Weil sie höhere Gehälter bezahlen, ziehen luxemburgischsprachige Erzieher oft konventionierte Einrichtungen den privaten vor. „Es ist schwierig, luxemburgischsprachiges Erziehungspersonal zu finden“, sagt Elizabeth Cruz, in der Handelskammer für den Betreuungssektor zuständig.

„Eltern müssen sich emanzipieren und sich trauen, Erwartungen zu formulieren“, sagt Manuel Achten, Leiter der Abteilung Kinderhilfe im Erziehungsministerium. Seine Abteilung denkt derzeit über eine Neuauflage einer Informationsbroschüre „Wie finde ich eine gute Kindertagesstätte? nach, um unsicheren Eltern die Suche zu erleichtern. „Je größer die Wahl wird und je stärker die Konkurrenz, desto besser wird das Angebot“, hofft Achten, der bedauert, dass es trotz aller Erfolge mit der Qualitätsoffensive „nicht schneller“ vorangehe. „Es gibt Anbieter, denen geht es weniger um die Pädagogik und die Kinder, als vielmehr ums Geschäft“, gibt er zu.

Umsetzung lückenhaft Um Betreiber bei der Umstellung zu unterstützen, aber auch um zu überprüfen, ob sie sich an gesetzliche Vorschriften halten, hat der Staat fünf regionale Agenturen eingerichtet: In den Regionen Luxemburg-Stadt, Grevenmacher, Differdingen, Esch-Alzette und Ettelbrück wurden insgesamt 25 SacharbeiterInnen eingestellt, die dem nationalen Jugenddienst SNJ unterstehen. 1 538 pädagogische Konzepte haben sie 2018 unter die Lupe genommen, 2 415 Kontrollbesuche absolviert, davon 1 151 bei Tageseltern, die ebenfalls über die Dienstleistungsschecks abrechnen können, sofern sie die Auflagen des Rahmenplans einhalten, und 1 174 bei Kinderkrippen und in Maisons relais. Nicht immer war alles im Lot: Vor Ort prüften die Sachverständigen Elemente aus dem Rahmenplan, wie kindgerechte Aktivitäten, Ernährung, Mitbestimmungsmöglichkeiten und anderes mehr. Bloß: Welche Folgen festgestellte Verstöße gegen die Qualitätsauflagen hatten, geht aus ihrem Bericht nicht hervor.

Wer mehr Informationen über die Qualität im Sektor erhofft, kommt mit dem Bericht kaum auf seine Kosten. Wie bei den Schulen hat sich das Ministerium dagegen entschieden, die Kontrollberichte zu veröffentlichen und Anbieter, die Qualitätsmängel aufwiesen, öffentlich zu nennen. „Das ist nicht vorgesehen“, bekräftigt Georges Metz, Leiter des SNJ auf Land-Nachfrage. Man sehe „die Kontrollen als Teil eines Prozesses, die Betreiber zu mehr Qualität anzuhalten“, so Metz, der beteuert, „keinen Okkultismus“ um Unzulänglichkeiten betreiben zu wollen. Die Logik dahinter: Der Staat will – zumindest in einer Übergangszeit – zu freiwilligen Verbesserungen anregen, statt Missetäter direkt zur Rechenschaft zu ziehen. Einrichtungen, die Auflagen nicht erfüllen, müssen Schwachpunkte nachbessern. Wer seine Betriebsgenehmigung behalten und weiter über den Dienstleistungsscheck abrechnen will, muss konform zu den Regeln sein.

Doch was bringt das den Kunden? Eltern, die ihr Kind bei einer Einrichtung oder einer Tagesmutter anmelden wollen oder bereits angemeldet haben, erfahren – anders als der Staat – nicht, wie gut eine Einrichtung bei den Kontrollvisiten abschneidet. Auch nicht, ob ihre Krippe oder Tagesmutter zu den Musterschülern zählt oder zu den Nachzüglern in punkto Qualität. Zur Verunsicherung tragen zudem Schreckensmeldungen bei, wie jene vor einem Jahr über die Kindertagesstätte in Bous, die per Gerichtsbeschluss plötzlich schließen musste und über deren mutmaßliche Fehltritte bis heute keine Einzelheiten gesichert bekannt sind. Stattdessen machten Gerüchte die Runde. Auf eine parlamentarische Anfrage der damaligen LSAP-Abgeordneten Taina Bofferding und Simone Asselborn-Bintz verwies Erziehungsminister Claude Meisch (DP) im Dezember 2018 auf das Untersuchungsgeheimnis. Berufstätige Eltern wurden auf die staatliche Webseite www.accueilenfant.lu verwiesen. Mittlerweile sind die Ermittlungen abgeschlossen, die Akten liegen bei der Staatsanwaltschaft, so Gerichtssprecherin Diane Klein. Ob und gegen wen warum Anklage erhoben werden soll, erfuhr das Land nicht.

En connaissance de cause? Besagte Webseite war durch die Schließung verängstigten Eltern, die so eine Erfahrung nicht erneut machen wollten, nur bedingt eine Hilfe: Sie listet zwar Betreuungsangebote nach Regionen und Größe auf. Aber weder ist ersichtlich, ob Plätze frei sind, noch wie gut das Angebot ist. In der Regel sind Aktivitäten benannt, Betreuungsqualität, manchmal sogar der pädagogische Ansatz aber nicht. Der Staat kennt das Problem: „Besonders private Anbieter fürchten, Konkurrenten könnten ihr pädagogisches Konzept und somit ihre Geschäftsidee kopieren“, sagt Georges Metz vom SNJ. Statt verunsicherten Eltern mit klaren Kriterien bei der Orientierung zu helfen, etwa durch ein allgemein verbindliches, präzise geregeltes und verständliches Gütesiegel, setzt das Erziehungsministerium weitgehend auf selbstregulierende Marktkräfte. Dabei hatte Chefkoordinator Manuel Achten im Ministerium einst persönlich die Idee propagiert, mit einem Qualitätslabel mehr Einblick in die Betreuungsqualität zu erlauben. Inzwischen nimmt er davon Abstand. „Für ein Güte-Label braucht es Indikatoren, wie aber soll man ein pädagogisches Konzept bewerten?“, beschreibt Achten die Schwierigkeit. Der Gesetzgeber habe bewusst einen Rahmen vorgegeben, „damit die Einrichtungen eigene pädagogische Akzente setzen können“.

Dass der Markt es regelt, dass ein größeres Angebot automatisch zu besserer Qualität führt, scheint jedoch auch Achten zu bezweifeln: „Eltern müssen informiert sein, um ‚en connaissance de cause’ ihre Wahl treffen zu können“, sagt er. Nur ist es mit der Wahlfreiheit so eine Sache: Sind Eltern berufstätig, können nicht auf Großeltern zurückgreifen und verdienen sie zudem zu wenig, um eine private Betreuung oder teurere Tageseltern zu bezahlen, bleibt ihnen nur, sich auf einen Gratis-Platz einer konventionierten Kindertagesstätte zu bewerben. Doch deren Wartelisten sind teils lang; trotz Reformen und Millioneninvestitionen haben Eltern kein Anrecht auf einen Betreuungsplatz für ihr Kind. Wer Sohn oder Tochter in einer kleiner Gruppe oder bei einer Tagesmutter/-vater besser versorgt wähnt, zahlt zudem meistens drauf – und riskiert, Abstriche bei der sprachlichen Frühförderung hinnehmen zu müssen, die Tageseltern nicht anbieten dürfen. Zweimal schon haben Tageselternverbände per Petition auf die unfaire Wahl aufmerksam gemacht, aber nie das nötige Quorum erreicht, um angehört zu werden.

Noch etwas bleibt außen vor: Nicht für jedes Kind ist die außerfamiliäre Betreuung gleich gut geeignet. Längst sind es nicht nur konservative Kreise wie www.famill.lu, die vor den Folgen des Fremdbetreuungs-Booms warnen. Gilbert Pregno, Familienpsychologe und Präsident der Menschenrechtskommission, sieht den Ausbau der außerfamiliären Betreuung mit Sorge, obwohl er sie grundsätzlich begrüßt: „Manche Eltern betrachten die Fremdbetreuung als Erziehungsersatz. Aber Kinder brauchen feste Bindungen.“ Die Tatsache, dass Behörden und Schulen immer mehr verhaltensauffällige Kinder melden, führt er auch auf die Betreuungsfrage zurück. „Wir haben eine gesellschaftliche Pflicht, allen Kindern eine adäquate Betreuung zu ermöglichen“, mahnt Pregno. Dafür müssten Eltern allerdings die Qualität der Betreuungsangebote realistisch einschätzen können.

Ines Kurschat
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