Giorgos Lanthimos und die Ästhetik des moralischen Konsenses

Von der Zumutung zur Zustimmung

d'Lëtzebuerger Land vom 31.10.2025

Mit Bugonia zeigt Giorgos Lanthimos einmal mehr, dass er nun ganz im Zentrum jenes Kinos steht, das sich im warmen Licht moralischer Selbstvergewisserung eingerichtet hat. Sein neuer Film ist Gleichnis einer Zeit, die ihre Empörung längst verinnerlicht hat. Der Film kennt sein Publikum: Er spiegelt ihm das eigene Bewusstsein zurück – er ist nicht Erkenntnis, sondern Konsens.

Das war nicht immer so. Lanthimos’ frühe Filme waren Sprengsätze gegen jede Lesbarkeit. Dogtooth (2009) zeigte das Haus als Labor totaler Kontrolle, eine beklemmendes Themenfeld aus Angst, Zucht und Sprachzerfall. The Lobster (2015) verlegte diese Gewalt in die Ordnung der Gefühle: In einer Gesellschaft, in der Singles zu Tieren transformiert werden, wenn sie keinen Partner finden, wird das Animalische zur Drohung. Dieses Kino forderte den Blick, es entzog die Deutung, um Erfahrung zu erzwingen. Mit The Favourite (2018) kippte dieser Impuls in Manierismus. Das höfische Machtspiel, einst Anatomie des Begehrens, wird zur barocken Choreografie des Blicks: prächtig, clever, reaktionssicher. Poor Things (2023) schließlich markierte den Moment, in dem Lanthimos in den neuen moralischen Mainstream hineinglitt. Das Absurde wird Stil, das Verstörende Ornament. Die Frankenstein-Erzählung um Bella Baxter (Emma Stone) wird zum Sinnbild weiblicher Emanzipation: eine Frau, die die Welt neu entdeckt, während die Männer zu grotesken Trägern alter Gewalt werden. Lanthimos zeigt dabei weniger eine Frau, die sich befreit, als eine Öffentlichkeit, die sich in der Vorstellung ihrer Befreiung gefällt. Lanthimos lässt offen, ob die Substitution des Patriarchats durch das Matriarchat am Ende die bessere Gesellschaftsform verspricht.

Diese Bewegung, die man – mit aller Vorsicht – als eine Facette des post-#MeToo-Kinos bezeichnen kann, ist auch das Resultat einer gesellschaftlichen Verschiebung, die viel Gutes bewirkt hat. Sie hat jene sichtbar gemacht, die jahrzehntelang am Rand der Erzählung standen, hat Machtverhältnisse befragt, Perspektiven geöffnet, neue Subjekte zum Mittelpunkt von Kinobildern gemacht. Doch wo das Gute dieser Bewegung evident ist, kam mit ihr eine Ästhetik, die das Erwachen des Blicks in die Routine des Sehens verwandelt hat. Hollywood hat das verstanden – und kapitalisiert es mit der Effizienz eines Marktes, der längst gelernt hat, dass Bewusstsein verkäuflich ist. In Lanthimos hat die Industrie ihren idealen Mittler gefunden: einen Regisseur, der moralische Sensibilität und ästhetische Kalkulation perfekt verbindet. Seit The Favourite gilt Lanthimos dort als die ideale Synthese aus Exzentrik und Verlässlichkeit, aus formaler Kühnheit und moralischer Lesbarkeit. Die Studios haben in ihm den Regisseur gefunden, der das Unbequeme in die richtige Form bringt: exzentrisch genug, um als Kunst zu gelten, klar genug, um niemanden zu verstören. Festivals und Jurys folgen dieser Logik. Poor Things markierte den vorläufigen Höhepunkt: Der Goldene Löwe in Venedig war die symbolische Krönung einer Ästhetik, die ihre Ambivalenz perfekt dosiert. Die Oscars taten ihr Übriges: Emma Stone als neue Ikone weiblicher Selbstermächtigung, Lanthimos als moralisch kompatibler Visionär – das passte in eine Industrie, die ihre Aufgeklärtheit am liebsten in Trophäen gießt. Das System belohnt nicht das Risiko, sondern dessen Simulation. Ein Jahr später folgte Kinds of Kindness (2024), drei Episoden über Macht, Gehorsam und das Bedürfnis nach Kontrolle – und zugleich über das Bedürfnis nach Liebe, das hier in seine äußerste Pervertierung getrieben wird. Die Figuren sind leer, bis zur Selbstaufgabe auf Bindung programmiert, aber unfähig, sie zu empfinden. Jede Episode wirkt wie eine Parabel, die eine einzige Wahrheit illustrieren soll: Dass der Mensch ein elendes, bedürftiges Wesen ist. Lanthimos betrachtet seine Geschöpfe mit der Distanz eines moralischen Zoologen, der nicht mehr an den Menschen glaubt, weil er ihn nur noch in seiner animalischen Bestialität sehen kann.

Lanthimos’ Filme gefallen sich in ihrer eigenen Schwarzhumorigkeit, in der kalkulierten Groteske, die nicht mehr erschüttert, sondern zunehmend belustigen soll. Das Tragische, einst unauflöslich und schwer, wird zum dekorativen Zynismus. Bugonia ist ein weiterer Eintrag in diese Marktlogik: ein Kino der Bewusstseinsabbildung. Lanthimos bebildert Diskursvokabeln – female empowerment, toxische Männlichkeit. Er illustriert, was die Gesellschaft längst weiß; das Kino wird zum Reflexionsersatz: Es genügt, zu wissen, dass man verstanden hat. Bugonia ist ein Remake des südkoreanischen Kultfilms Save the Green Planet! (2003) von Jang Joon-hwan, den Lanthimos in ein westliches, post-#MeToo-Zeitalter überträgt. Zwei Männer, paranoide Außenseiter, entführen eine erfolgreiche Geschäftsfrau (Emma Stone), überzeugt, sie sei ein außerirdisches Wesen, das die Menschheit unterwandert. In ihrer wirren Logik ist eine Frau an der Spitze eines Konzerns kein Mensch, sondern eine Bedrohung. Sie sperren sie in ein abgelegenes Haus, um die Welt zu „retten“. Was im Original noch anarchisch, grotesk, unberechenbar war, wird bei Lanthimos zu einer kalkulierten Versuchsanordnung über Macht, Geschlecht und Wahrnehmung. Die Satire weicht der Parabel, das Chaos der Choreografie. Der Regisseur verlegt die Geschichte in eine glatte, urbane Gegenwart, in der jeder Blick bereits Diskurs ist. Die beiden Entführer verkörpern ein archaisches, verunsichertes Männlichkeitsbild; die Frau wird zur Projektionsfläche ihrer Ängste – und zugleich zum Spiegel ihrer Ohnmacht. Lanthimos betont die Gender-Dynamik mit didaktischer Präzision, alles ist lesbar, zuordenbar, keine Irritation. Die Figuren dieses Films sind so grotesk gezeichnet, dass niemand Gefahr läuft, sich in ihnen zu erkennen – sie dienen der moralischen Absicherung des Publikums.

So entsteht ein Diskursfilm über „toxische Männlichkeit“ und „Female Empowerment“, über patriarchale Paranoia und weibliche Selbstbehauptung. Bugonia spielt virtuos mit den Erwartungen des post-#MeToo-Publikums: Er beginnt wie eine Parodie auf den misogynen Wahn, entwickelt sich dann zur moralischen Versuchsanordnung und kippt schließlich in eine allumfassende misan-
thropische Apokalypse: „Where have all the flowers gone?“, singt Marlene Dietrich. Diese Brüche sind kein Risiko mehr, sondern kalkuliert. Selbst die Wendung am Ende, die als Subversion erscheinen soll, ist nichts als ein Überraschungseffekt – die Geste des Widerspruchs als Routine. Lanthimos’ Filme funktionieren wie moralische Maschinen, die Zustimmung im Modus der Differenz erzeugen. Die ironischen Volten – der abrupte Bruch, das doppelt kodierte Finale – wirken inzwischen wie dramaturgische Reflexe einer Ästhetik, die die Irritation simuliert, aber sie in Wirklichkeit neutralisiert hat.

Damit verliert Lanthimos’ Kino jeden Gegenstand. Es blickt nicht mehr auf Welt, sondern auf Diskurse. Seine Bilder sind hermetisch geschlossen, ohne Außen. Keine Erkenntnis nur Bespiegelung. Was früher eine Erfahrung des Fremden war, ist heute ästhetisch verwaltete Gewissheit. Vielleicht ist das die eigentliche Tragik dieses Werks: Der Regisseur, der einst an der Peripherie der griechischen Filmlandschaft die Familie als totalitäre Miniatur sezierte, ist im Zentrum einer Main-
stream-Industrie angekommen, die sich von ihrer eigenen Aufklärung nährt. Das Kino der Zumutung ist zum Kino der Zustimmung geworden – und kaum jemand scheint es zu bemerken, weil die Bilder so schön-bizarr sind.

Marc Trappendreher
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