In Sassenheim konnte sich ein Sozialarbeiter zwischen 2010 und 2019 ungeniert an seinen Klientinnen vergreifen. Anzeichen, denen man hätte nachgehen können, gab es

Nichts gewusst

Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 25.07.2025

Der beschuldigte Sozialarbeiter, für den bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung im Oktober die Unschuldsvermutung gilt, stand Ende Juni vor Gericht. Neun Frauen, frühere Klientinnen, werfen ihm sexuelle Belästigung vor. Es geht um Schwerwiegendes: erzwungene Masturbation, ungewollte sexuelle Handlungen ebenso wie ein Vergewaltigungsvorwurf stehen im Raum. Den Tathergang schilderte eine von ihnen in Tränen aufgelöst vor Gericht; ein Verhör eines weiteren Opfers wurde ebenfalls gezeigt. Die Betroffenen erklären die Masche, die stets ähnlich funktionierte: Freundliche Erstbegegnungen, dann schnell zum Du, später Küsse und ungewollte Berührungen und unangemeldete Besuche zuhause. Bei Zurückweisungen tendierte der Angeklagte zu Kälte und abfälligen Bemerkungen sowie der Androhung, er kenne den Bürgermeister gut, die Hilfen könnten gestrichen werden. Die Frauen, die sich ans Sozialamt gewandt hatten, befanden sich in finanziell sowie sozial prekären Situationen. Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft spricht von der „Spitze des Eisbergs“. Vieles deute darauf hin, dass der Sozialarbeiter bereits vor 2010 ähnliches Verhalten an den Tag gelegt habe. Er nutzte offenbar seinen Job, um seine sexuellen Triebe zu befriedigen – auch in seinem Büro, in dem Kondome gefunden wurden. Die Staatsanwaltschaft sprach während des Prozesses von einem „methodischen und systematischen Missbrauch der Machtposition“.

Das Office social ist seit 2009 ein établissement public und untersteht seinem Präsidenten. In Sassenheim war Jos Piscitelli (damals LSAP, heute déi Lénk) ab 2011 und bis 2017 Präsident des Sozialamtes und Gemeinderat. Der Abgeordnete Georges Engel (LSAP) war ab 2005 und bis 2020, bevor er Arbeitsminister wurde, Bürgermeister der Gemeinde (ab 2012 auch Abgeordneter). Die Wege des Angeklagten Gilbert T. und des Bürgermeisters kreuzten sich früh. Sie sind derselbe Jahrgang, besuchten seit ihren Kinderjahren die gleiche Musikschule und studierten gemeinsam Soziale Arbeit in Brüssel. Jedes Jahr fuhren sie gemeinsam mit anderen Männern ein Wochenende in den Skiurlaub. „Eigerteam“ nannte die Gruppe sich; auch Jos Piscitelli fuhr regelmäßig mit. Zweimal feierte der Angeklagte Hochzeit, zweimal war Georges Engel anwesend. Sie standen sich nah, waren gute Freunde. Sie seien „durch dick und dünn“ gegangen, sagen Weggefährten. 2009 lobte
Georges Engel „die gute Arbeit des Sozialarbeiters Gilbert T.“ im Gemeinderat. Vom systematischen Fehlverhalten des Sozialarbeiters will zwölf Jahre später niemand aus dem engeren Kreis etwas gewusst haben.

Im Rahmen der Untersuchung wurden im Januar 2020 Personen gehört, die den Verdacht hegten, der Bürgermeister könnte seinen Freund gedeckt haben. Diese Menschen wollten dies nicht schriftlich zu Protokoll geben. Dies geht aus einem Polizeibericht an die Staatsanwaltschaft hervor. Zwei der betroffenen Frauen gaben laut Tageblatt während des Prozesses an, „politischen Verantwortlichen und anderen Gemeindemitarbeitern ihr Unwohlsein im Umgang mit dem Beschuldigten anvertraut zu haben“. „Niemand glaubte mir“, habe eine von ihnen gesagt. Die Staatsanwaltschaft wird im Tageblatt-Artikel mit den Worten zitiert: „In dieser Affäre wurde vieles unter den Teppich gekehrt.“ Georges Engel streitet diese Vorwürfe gegenüber dem Land vehement ab. Er finde es „sehr schlimm“, dass er unter Verdacht stehe, Straftaten zu decken, und „sehr schlimm“, dass sein Freund ihn als Druckmittel genutzt habe. Von der Polizei wurden weder er noch Jos Piscitelli verhört.

Anzeichen, denen intensiver nachgegangen werden konnte, gab es jedenfalls. 2012, der Angeklagte ist bereits Familienvater, bekommt er ein Kind mit einer Frau, die von ihrer Freundin, Myriam Cecchetti, damals für die Grünen im Schöffenrat, zum Angeklagten geschickt wurde, um Hilfe zu bekommen. Eine einvernehmliche Geschichte, Privatsache, erklärt der Bürgermeister. Es sei „sein Leben“ sagt Georges Engel im Gespräch mit dem Land. Später wird der Angeklagte sagen, er habe dieses Kind nicht in seiner Dienstzeit gezeugt. Im März 2013, nachdem eine einvernehmliche Beziehung mit einer Arbeitskollegin schlecht endet, streiten der Angeklagte und seine Ex-Freundin sich mehr oder wenig öffentlich im Office social der Gemeinde. Die Auseinandersetzungen arten im Mai 2013 aus. Im Zusammenhang damit kommt es zu einem ordre de justifica-
tion für den angeklagten Gemeindebeamten. In Emails, die dem Land vorliegen, ging es zwischen dem damaligen Gemeindesekretär Luc Theisen und dem Präsidenten des Sozialamtes Jos Piscitelli um die Prozedur des ordre de justification. Auch Georges Engel steht im CC. Aufgelistet sind die Fehler, für die sich der Angeklagte rechtfertigen muss: eine körperliche Aggression gegenüber seiner Arbeitskollegin und Ex-Partnerin, ebenso wie Termine, die bei Klientinnen außerhalb der Arbeitszeiten wahrgenommen würden, ohne Überstunden anzumelden.

Im Gespräch mit dem Land erklärte Georges Engel zuerst, er habe nichts von Terminen seines Freundes mit Klientinnen außerhalb regulärer Arbeitszeiten gewusst. Konfrontiert mit den Emails, sagt er, davon keine Kenntnis mehr gehabt zu haben, „ohne das kleinreden zu wollen“. Er habe professionell wenig mit dem Office social zu tun gehabt, da es als établissement public nicht seiner Autorität unterstanden habe.

Der Angeklagte rechtfertigt seine späten Hausbesuche zu diesem Zeitpunkt in seiner Rechtfertigung folgendermaßen: „Ma philosophie du travail social était toujours d’être à la disponiblité maximale de mes clients.“ Die Hausbesuche seien manchmal nach 19 Uhr gewesen, jedoch nie nach 21 Uhr, wie ihm vorgeworfen werde. Er habe das aufgrund von beruflichen und familiären Einschränkungen seiner Klientinnen getan. „Ces visites on toujours eu un caractère professionnel. Il suffira de contacter ces personnes pour vérifier mes propos. (...) Je n’ai jamais dans ma vie professionnelle connoté mon travail à une vision rigide d’un règlement sur les heures de travail.“ Hausbesuche sind nicht völlig unüblich, besonders häufig sind sie jedoch anderen Sozialarbeiterinnen zufolge nicht.

Der Sommer 2013 ist ein Schlüsselmoment, doch es passiert wenig. Der Verwaltungsrat des Sozialamtes kommt im September 2013 zum Schluss, dass keine weiteren Disziplinarfolgen nötig sind. Eine Mediation wird eingeschaltet, die interne Hausordnung wird so überarbeitet, dass sich Mitarbeiter für jegliche Termine außerhalb der Arbeitszeiten in ein Abwesenheitsregister eintragen müssen und keine Termine mehr nach 19 Uhr stattfinden dürfen. Im rot-grünen Schöffenrat wird à huis clos über den Personalfall diskutiert. Schöffin Myriam Cecchetti (heute déi Lénk) meldet Verdacht über das Verhalten des Sozialarbeiters an und stellt seine professionelle Ethik infrage. Sie sei vom Bürgermeister „zur Schnecke gemacht” worden, als hysterisch hingestellt worden, erklärt Myriam Cecchetti im Gespräch mit dem Land. An den genauen Wortlaut erinnert sie sich nicht – nur, dass die Kritik misogyn gewesen sei. Man habe ihr unterstellt, den Sozialarbeiter herauswerfen zu wollen. Es kommt nicht zur Abstimmung, es folgen keinen weiteren Sanktionen. „Hätten wir mehr machen müssen? Aber was genau wäre das gewesen?“, fragt Jos Piscitelli, der mit Myriam Cecchetti liiert ist, heute. Den Beamten zu versetzen, wäre schwer gewesen, meint er. An seinen Privatkalender zu kommen, ebenfalls. Eine proaktive Option für die Verantwortlichen hätte eine systematische und längere Befragung der Klientinnen sein können.

Erst sechs Jahre später, 2019, wird der Angeklagte, nachdem sich eine Frau bei der Polizei meldet, vom Dienst suspendiert. Georges Engel bricht den Kontakt mit seinem Freund ab, sagt er dem Land. 2022 wird Gilbert T. vom Disziplinarrat aus dem öffentlichen Dienst entlassen; er arbeitet heute weiter im sozialen Bereich, jedoch mit einer mehrheitlich männlichen Bevölkerung.

Sozialarbeiter/innen wie er arbeiten mit einer Portion Autonomie. Klienten sind auf sie angewiesen und suchen neben praktischer Hilfe oft auch psychologischen Halt in schwierigen Lebenssituationen bei ihnen. Supervision, also externe Beobachtung von Arbeitsprozessen, ist in Luxemburg im Gegensatz zum Ausland insbesondere im sozialen Sektor noch unterentwickelt. Sie dient der beruflichen Selbstrefle-
xion und soll die Qualität der Beratung sichern. Sie kann ebenfalls dazu beitragen, Distanz zu wahren und den professionellen Umgang mit den Hilfeempfängern zu garantieren. Vor allem in den kleineren Sozialämtern fehlt es an systematischer Supervision, und somit an direkten Kontrollmechanismen. Kontrollmechanismen, die dazu beitragen können, Fehlverhalten wie das von Gilbert T. früher festzustellen. Ginette Jones, Präsidentin der Entente des Offices sociaux, plädiert für mehr Mittel, damit in allen 30 Sozialämtern des Landes regelmäßige Gruppen- und Einzelsupervision zum Alltag gehört. Team-Meetings und ein regelmäßiger Austausch untereinander seien äußerst wichtig, ebenso wie pragmatische, themenbezogene Weiterbildungen. Elementar sei immer wieder die Frage, warum man selbst Sozialarbeit als Beruf gewählt hat. „Und wenn jemand sagt, es ist wichtig, respektvoll mit seinem Klienten umzugehen, muss man diese Person fragen: Was bedeutet das denn konkret, Respekt?“

Sarah Pepin
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