Eine halbe Stunde quälte sich CSV-Sozialministerin Martine Deprez vergangenen Samstag im RTL-Radio mit den Renten. Das war fünf Tage nach der letzten Sozialronn der Regierung mit Gewerkschaften und Unternehmerdachverband UEL. Zwei Tage zuvor war RTL zugetragen worden, welche Vorschläge die Regierung dort gemacht hatte.
Die zu den Renten waren besonders interessant. Eine Verlängerung der Beitragszeit, ehe eine vorgezogene Rente angetreten werden kann, ist demnach weiterhin im Gespräch. Doch nur ein Monat pro Jahr mehr und zusammengenommen maximal acht Monate. Wer früh zu arbeiten begonnen hat, soll weiterhin nach 40 Jahren mit 57 in Rente gehen können. Der Beitragssatz soll für Versicherte, Betriebe und Staat um je einen halben Prozentpunkt steigen. Die Anpassung der bestehenden Renten an die Reallohnentwicklung will die Regierung offenbar nicht antasten, die Jahresendzulage ebenfalls nicht. Fünf Jahre nach Inkrafttreten der Änderungen soll Bilanz gezogen werden.
Entsprechend schwer tat die Ministerin sich damit im „Background“. Weder confirméieren, nach infirméieren wollte sie, was der RTL-Journalist ihr vorlas. Sie gab sich aber dazu her, darauf einzugehen, wie es wäre, wenn „hypothetisch“ zuträfe, was sich wahrscheinlich schon das halbe Land erzählt und was einer Rolle rückwärts gegenüber dem entspricht, was Premier Luc Frieden im Mai im état de la nation mit der Autorität des Regierungschefs angekündigt hatte. Doch nein, „Berechnungen“, inwiefern diese Vorschläge die Rentenkasse entlasten würden, hatte die Ministerin nicht zur Hand. Denn „falls“ die Vorschläge „hypothetisch“ so wären, wie angedeutet, und weder confirméiert, nach infirméiert, dann „kamen sie erst am Montag [am 14. Juli] auf den Tisch“.
Momente wie dieser sind solche, in denen Martine Deprez sich nicht nur selber ein Bein stellt, sondern die Regierung mit sich reißt: Dass die offenbar Ideen vorbrachte, die nicht durchgerechnet waren, sieht nicht gerade nach evidenzbasierter Politik aus. Und was geht es die Öffentlichkeit an, noch dazu zur guten Sendezeit, dass die Regierung mit Gewerkschaften und UEL vorige Woche improvisierte? Mit Martine Deprez ging die Mathematikerin durch, die „faktenbasiert“ argumentieren möchte, wie sie das selber gerne nennt. Die bei RTL erklärte, in den zwanzig Monaten im Amt habe sie gelernt, dass es darauf ankommt, was man wann sagt und wie. Offensichtlich dauert dieser politische Lernprozess noch an.
Wieso sie den Auftritt im „Background“ nicht absagte und auf die Zeit nach dem 3. September verschob, wenn die Runde sich wiedergetroffen und vielleicht ein Abkommen gefunden hat, ist ihr Geheimnis. Angeblich war der Termin vier Wochen vorher abgemacht worden. Vielleicht wollte Martine Deprez die Gelegenheit nutzen, um ihre eigene Rolle in der Angelegenheit zu klären und sich dezent von Luc Frieden abzusetzen. Menschen, die sie kennen, beschreiben sie als eine, die Niederlagen wegstecken kann, sie von sich abprallen lässt und nicht nachtragend ist. Die es jedoch gar nicht mag, wenn ihr das Heft aus der Hand genommen wird. Genau das tat Frieden im état de la nation: Mit der Ankündigung, die für eine vorgezogene Rente nötige Beitragszeit werde ab einem bestimmten Zeitpunkt um drei Monate jährlich erhöht, machte er nicht nur OGBL und LCGB ein unerwartetes politisches Geschenk zur Mobilisierung für ihre Kundgebung. Er beschädigte auch die Glaubwürdigkeit seiner Sozialministerin nach all ihren Schwätzmat-Konsultationen. Plötzlich schienen die Renten Chefsache zu sein. Loyal, wie sie ist, konterte Martine Deprez im Radio vorsichtig: Falls „hypothetisch“ weniger Beitragszeit verlangt würde, habe sie das bei ihrer Pressekonferenz eine Woche nach dem état de la nation schon gesagt. Es könnten zum Beispiel auch zwei Monate sein. Nichts sei in Stein gemeißelt. Das mag sein, doch mittlerweile funkt ihr nicht nur der Premier ins Geschäft, sondern auch die DP, an der Spitze Xavier Bettel.
Dabei hatte sie zu Beginn der CSV-DP-Regierung selber weitreichende Ankündigungen gemacht. Hatte in einem Land-Interview am 5. Januar 2024 erklärt, Betriebsrenten und private Zusatzrenten müssten „in der Architektur der Altersvorsorge eine größere Rolle spielen“. Den Kürzungseffekt der Rentenreform von 2012 wollte sie um 20 Jahre vorziehen. Dass im Rentenreformgesetz von 2012 steht, die Rentenanpassung würde um mindestens die Hälfte gekürzt, sobald die Rentenkasse ihre Reserve angreifen muss, nannte sie ein „Luxusproblem“: Dann bliebe ja immer noch der Index. Lediglich über Details so einer Reform sollte es Konsultationen und Bemühungen um einen Konsens geben; die Gespräche würden im Frühjahr 2024 beginnen. Da schien Martine Deprez ganz auf Luc Friedens Linie zu sein. Dabei steht sie innerhalb der CSV ideologisch dem „Team Spautz“ näher als dem „Team Frieden, Mosar, Donnersbach“. Im Staatsrat, dem sie ab November 2012 bis zu ihrer Berufung in die Regierung angehörte, hinterließ sie den Eindruck einer sozial eingestellten Person. Wäre sie nicht Ministerin geworden, hätte sie womöglich Staatsratspräsidentin werden können.
Dass sie trotz ihrer sozialen Haltung proklamierte, den zweeten an drëtte Pilier müssten eine größere Rolle spielen, ist nicht unbedingt ein Widerspruch: Etwas Ähnliches hatte die Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) im Frühjahr 2009 in einem Bericht an die Tripartite suggeriert: Die Frage sei, wie weit die öffentliche Rentenversicherung reichen soll. Das war drei Monate vor den damaligen Kammerwahlen, zu denen die Renten ein Wahlkampfthema wurden. Vielleicht plädierte Anfang 2024 die ehemalige IGSS-Mathematikerin Deprez mit einer ähnlichen technokratischen Unschuld für mehr Privatrenten im System, wie die Behörde vor 15 Jahren. Die Expertin war sich nicht darüber im Klaren, was das politisch hieße und wie sie am besten die Rolle derjenigen spielt, die den Leuten die Notwendigkeit einer weiteren Rentenreform näherbringen soll, die 2023 kein Wahlkampfthema gewesen war. Als gütiger Gegenpol zum Premier, der im Neijoerschinterview 2025 in RTL-Télé mit seinem „Cappuccino-Modell“ für die Renten klang wie der bad cop neben Martine Deprez.
Die Frage stellt sich, wie stark Martine Deprez als Ministerin beschädigt wurde. Der Premier, die ganze Regierung sowie CSV und DP müssen ein Interesse daran haben, dass sie möglichst wenig beschädigt wird, denn sie brauchen sie. Der Regierungsvorschlag zu den Renten, weder confirméiert, nach infirméiert, liefe darauf hinaus, CSV und DP sicher über die nächsten Wahlen zu bringen. Dass seine Wirkung aufs Rentensystem nicht weit reichen wird, ist auch ohne viel Mathematik absehbar. Dafür sorgt schon die Entwicklung der Beschäftigung und der Rentenkassenlage. Am 11. Juni sagte der Präsident der Rentenkasse CNAP, Alain Reuter, dem parlamentarischen Sozialausschuss, „wahrscheinlich“ werde die CNAP nächstes Jahr 100 Millionen Euro Defizit verzeichnen. Dem gegenüber bringt ein halber Prozentpunkt mehr im Beitragssatz rund 500 Millionen mehr an jährlichen Einnahmen. Hohe Gehälter fin de carrière „ab einem bestimmten Zeitpunkt“ einen Monat länger anzuzapfen, bringt auch etwas. Doch 2028 müssten die Renten Wahlkampfthema für eine weiter reichende Reform werden.
Dazu würde Martine Deprez gebraucht, unbeschädigt in ihrer Rolle als Ministerin. Sie müsste die passende politische Erzählung verbreiten, um eine Reparaturaktion in dieser Legislaturperiode – sofern sie im September beschlossen wird – nahtlos in etwas Größeres in der nächsten zu überführen. Oder womöglich doch schon jetzt weiterzugehen, als die Regierung vergangene Woche vorschlug. Gut gewählt werden wollen CSV und DP 2028 ja auf jeden Fall.
So ein Rentenreform-Manöver ist unbekanntes Terrain für die Luxemburger Politik überhaupt, noch mehr für die Sozialministerin, die noch keine Politikerin ist. 2009 hatte sie auf der CSV-Südliste kandidiert. Damals war sie Sekretärin der Süd-CSV, Präsident der Sektion war Marc Spautz. Deshalb saß sie beim Wahlkampfkongress im Südbezirk im Februar 2009 in der ersten Reihe auf dem Podium mit Marc Spautz, Jean-Claude Juncker und Michel Wolter. Eine große Rolle im Wahlkampf spielte sie nicht, wurde unter 24 Kandidat/innen auf der Liste als Neunzehnte gewählt. Nach ihrem Ausscheiden aus der IGSS 2002 wurde sie Mathesproff, übernahm im Staatsrat 2012 das Mandat des verstorbenen Präsidenten und IGSS-Direktors Georges Schroeder. Unter ihm hatte sie in der IGSS die Rentendësch-Reform von 2001 bearbeitet. Als Expertin kennt sie das System. Als Staatsrätin in der Sozialkommission auch. Als Politikerin erst allmählich.
Wie viel Finesse nötig ist, um eine Rentenreform politisch zu vertreten, demonstrierte in der letzten CSV-LSAP-Regierung Sozialminister Mars Di Bartolomeo. Die Begleitumstände waren zwar andere. Über die Renten zu diskutieren, hatte 2006 die Tripartite beschlossen, 2008 und 2009 tagte eine Tripartite-Arbeitsgruppe. Im März 2009 schrieb die IGSS ihren in den letzten Abschnitten ziemlich explosiven Bericht zur Reichweite des öffentlichen Systems. Drei Monate später fanden Kammerwahlen im Schatten der Finanzkrise statt. Schon damals aber hatten CSV und LSAP die Idee, mit der Beitragszeit für eine vorgezogene Rente zu argumentieren. Die brachte Di Bartolomeo, nachdem die Koalition wiedergewählt worden war, in seiner „Pension à la carte“ unter: entweder eine Rentenkürzung hinzunehmen oder länger zu arbeiten. Am 2. Juni 2010 erklärte er in einer Kammerdebatte: „An et soll een och kloer soe kënnen, dass ab engem gewëssenen Datum, wann d’Liewenserwaardung eben esou dynamesch war, een de Leit kann zoumudden, dass, wann d’Liewenserwaardung ëm ee Mount pro Joer steigt, een dann och entspriechend ee Mount pro Joer méi laang kann, soll, muss schaffen, wann een – wann een! – wëllt vergläichbar Leeschtungen hu wéi haut.“ Ob diese Wahl à la carte tatsächlich wirkt, ist unklar, weil die Rentenreform von 2012 die Leistungen über 40 Jahre gestreckt um im Schnitt 15 Prozent kürzt. Der springende Punkt war 2012, nach drei Jahrzehnten sukzessiver Rentenerhöhungen überhaupt zu einer Kürzung überzugehen. Mars Di Bartolomeos erzählerische Formel diente am Ende als Mittelweg zwischen allen Angriffen von Gewerkschaften, UEL und parlamentarischer Opposition, aber auch des wirtschaftsliberalen Flügels der CSV.
Welche politische Erzählung auch immer Martine Deprez in den nächsten Jahren zu vertreten haben wird – die Wirkung wird auch davon abhängen, was die Ministerin in ihrem anderen Ressort, der Gesundheit, fertigbringt und wie die finanzielle Sanierung der Krankenversicherung ausgeht. Für diese wären nach Schätzungen vom vergangenen Herbst im Jahr 2027 Beitragserhöhungen fällig, wenn nichts geschieht. Ob das womöglich schon früher akut wird, hat noch niemand offiziell gesagt. Bisher hat Martine Deprez den Renten die Priorität gegeben. Findet im September die Sozialronn zu einem Kompromiss, mit dem sowohl die Gewerkschaften als auch die UEL leben können – wobei Letztere vielleicht von der Regierung ein Entgegenkommen erhält, das außerhalb der Sozialronn liegt –, wäre das für die Diskussionen um die Krankenkassenfinanzen nützlich.
Doch dieses Thema gehört ebenfalls zur Sécu. Als Gesundheitsministerin kann Martine Deprez bisher im Grunde nur Kampagnen vorweisen. Was an der Priorität für die Renten liegt, aber auch am Hang der Ministerin zu Präzision und Mikromanagement. Und an der Knappheit politisch kompetenter Beamter. Mit Letzterem rang schon ihre LSAP-Vorgängerin Paulette Lenert. Martine Deprez übernahm von ihr den gesamten Stab. Sie scheint aber nicht genau zu wissen, wo sie gesundheitspolitisch hinwill. Man sieht das an den Antworten auf parlamentarische Anfragen Lenerts, die ihre Nachfolgerin verständlicherweise zu Themen herausfordert, mit denen sie schon zu tun hatte. Oft geht Martine Deprez’ Antwort in die Richtung: Mir kucken dat.
Für ihre Glaubwürdigkeit als handlungsfähige Ministerin ist das riskant. Man kann Zweifel haben, ob sie die KomplWxität von Gesundheit plus Krankenkasse zu meistern vermag. Im zweiten Teil des RTL-Interviews am Samstag darauf angesprochen, erklärte sie, nicht zu verstehen, was der Ärzteverband AMMD mit seiner vehementen Kritik am Krankenhaus-Kollektivvertrag meint. Die AMMD hatte behauptet, die die CNS mitverwaltenden Gewerkschaften stünden in einem „Interessenkonflikt“, wenn sie einerseits die Krankenversicherung auf Sparkurs bringen, andererseits fürs Klinikpersonal die Übernahme des jüngsten Gehälterabkommens für den öffentlichen Dienst aushandeln. Martine Deprez sieht darin kein Problem: Das Geld dafür sei im Globalbudget der Spitäler schon eingeplant, verursache der CNS also keine neuen Kosten. Beim nächsten Treffen mit der AMMD werde sie das „ansprechen“.
Entweder war das die Antwort einer Expertin, oder einer werdenden Politikerin, die eine schwierige Frage abwehrte. Man muss den Groll der AMMD in einem größeren Zusammenhang sehen. Dass die CNS, um zu sparen, allen Dienstleistergruppen nur die Hälfte der möglichen Tarif-
aufbesserungen gewährt, während der Krankenhaus-Kollektivvertrag seit LSAP-Gesundheitsminister Benny Berg an den öffentlichen Dienst gebunden ist und nun einen höheren Punktwert sowie zwei Prämien vorsieht, enthält einen Konflikt zwischen dem öffentlichen Teil des Gesundheitswesens und dem privaten, zwischen Staat und Markt. Das muss die Ministerin jener Partei interessieren, die im Wahlkampf verkündet hatte, die „Freisetzung der Privatini-
tiative“ werde die Gesundheitsversorgung verbessern. Doch was mit dem viel beschworenen „secteur extrahospitalier“ werden soll, wer dort was machen und wie er reguliert sein soll, hat Martine Deprez seit ihrem Amtsantritt nicht einmal angedeutet. Kommt in der Öffentlichkeit neuer Unmut über zu lange Wartezeiten in den Notaufnahmen, für einen Termin beim Spezialisten oder für Radiologie auf, kann sich das mit dem Rententhema schnell zu einem politisch gefährlichen Cocktail vermischen.
Peter Feist
Kategorien: Renten
Ausgabe: 18.07.2025