Mit seinen Vorschlägen zur Individualbesteuerung ist Finanzminister Gilles Roth drauf und dran, zum Star der CSV zu werden

Alle in die Klasse R

Nur 85 Prozent der in Klasse  2 Besteuerten kommt in Klasse R besser weg
Foto: Olivier Halmes
d'Lëtzebuerger Land vom 04.07.2025

„Das ist ungerecht!“, klagte ADR-Fraktionspräsident Fred Keup am Dienstag. Da hatte er im Finanzausschuss der Abgeordnetenkammer neue Rechenbeispiele für eine künftige Individualbesteuerung der Einkommen gesehen. Ein Jahreseinkommen von 50 000 Euro würde demnach mit 3 071 Euro besteuert. Für zwei verheiratete Steuerpflichtige mit jeweils diesem Einkommen zusammen, wären es 3 071 Euro für jeden. Dagegen würden 21 041 Euro Steuer fällig, wenn eine der beiden Personen 100 000 Euro Jahreseinkommen hätte und die andere null. „Dat do geet géint d’Famill!“, findet Fred Keup.

Interessant ist der Fall tatsächlich, weil er die Individualbesteuerung im Kern berührt. Ihr Ansatz besteht darin, die capacité contributive jedes Steuerpflichtigen für sich zu betrachten. 100 000 Euro Jahreseinkommen sind eine beträchtliche capacité.

Abgesehen von Fred Keup und der ADR scheint das keine andere im Parlament vertretene Partei zu stören. CSV, DP, LSAP und Grüne, mit denen das Land ebenfalls sprach, sind angetan von den ersten Details zur großen Steuerreform, die CSV-Finanzminister Gilles Roth vor zwei Wochen in die Fraktionen zu tragen begann, ehe man sich diese Woche im Finanzausschuss wiedersah. Der Zuspruch ist nicht verwunderlich. Die Individualbesteuerung ist eine DP-Idee und stand in den Koalitionsverträgen 2013 und 2018 von Blau-Rot-Grün. Unter DP-Finanzminister Pierre Gramegna wurde sie 2017 für Verheiratete und Gepacste eher symbolisch und als Option eingeführt. Gilles Roth will nun Ernst machen – mit ausgerechnet jenem Projekt, das 2018 das wichtigste föderierende Vorhaben von DP, LSAP und Grünen war, als ihnen unverhofft eine zweite Runde an der Regierung zufiel. Aus dem wegen Covid-Seuche, Energiekrise und Ukraine-Krieg jedoch nichts wurde.

Bei so viel politischer Unterstützung für die Reform weiß die ADR nicht, ob ein Kampf fir d’Famill ihr politisch viel brächte. „Wir sind nicht total gegen die Individualisierung“, schwächt Fred Keup gegenüber dem Land ab. Allerdings müsse etwas „für die Kinder“ getan werden. Die Vergünstigung in Steuerklasse 2 durch das Splitting gegenüber Klasse 1 sei ja auch für Kinder in einer Familie gedacht. Was stimmt und was die anderen Parteien ähnlich sehen. „Die Kinder dürfen wir nicht vergessen“, erklärt CSV-Fraktionspräsident Marc Spautz. Vielleicht könne man „beim Kindergeld etwas machen“. Der DP-Abgeordnete Patrick Goldschmidt kann sich das auch vorstellen, auf keinen Fall wolle die DP „Kanner nees am Barême“ gesinn. Das will niemand. Mit den Steuerklassen 3.1, 3.2, 3.3 und so weiter wurde 1990 Schluss gemacht. Fred Keup bringt das „Elteregeld fir de Choix“ vor, das im ADR-Wahlprogramm 2023 stand. Den Gefallen, darauf einzugehen, dürfte der Finanzminister der ADR nicht tun.

Die Individualbesteuerung einführen zu wollen, ist nicht nur ein finanztechnisch, sondern auch ein gesellschaftspolitisch anspruchsvolles Vorhaben. Was aus den bestehenden abattements, der Absetzbarkeit von Sonderausgaben oder Außergewönhnlichen Belastungen werden soll, wurde noch nicht diskutiert. Alle haben sie einen Kostenpunkt, wenn durch sie Steuerausfall entsteht, aber auch eine gesellschaftliche Lenkungswirkung. „Vielleicht wollen wir ja private Rentenversicherungen im dritten Pfeiler stärker steuerlich fördern?“, stellt Patrick Goldschmidt in den Raum. Marc Spautz meint, der Finanzminister wolle erst den Kostenpunkt des gesamten Pakets kennen, ehe es um Abschläge und Absetzbarkeiten im Einzelnen geht.

Den Kostenpunkt oder „die Gegenfinanzierung“ führen LSAP und Grüne als wichtigstes Fragezeichen an. Und als Kritikpunkt, dass kein neuer Spitzensteuersatz am oberen Ende der neuen Einheitssteuerklasse vorgesehen ist, die den Arbeitstitel „R“ trägt (vermutlich für Reform und nicht für Roth). Sam Tanson von den Grünen sagt, der Finanzminister habe erklärt, dass niemand schlechter wegkommen soll, gelte auch für die höchsten Einkommen. Franz Fayot von der LSAP findet, ein neuer Spitzensteuersatz sei sowohl ein Gebot der Steuergerechtigkeit als auch der Finanzierbarkeit. Die neue Steuerklasse ändere wenig am Mëttelstandsbockel. „Ganz oben nach mehr Geld zu suchen“, hält der Ex-Wirtschaftsminister „auch mit Blick auf unsere Wirtschaft für eine gute Idee. Wenn ich an die jüngste Konjunkturnote des Statec denke, die sieht nicht gut aus“ (siehe auch S. 12).

„Das steht nicht im Koalitionsvertrag“, entgegnet Gilles Roth dem Land auf die Frage nach einem neuen Spitzensteuersatz. Der auf 800 bis 900 Millionen Euro im Jahr geschätzte Kostenpunkt der Reform werde vor allem „op ee Coup“ zu spüren sein, anschließend werde es „mehr Wachstum“ geben. Die DP sieht das auch so: „Die 800 bis 900 Millionen werden in die Wirtschaft gehen, die geben die Leute aus“, ist Patrick Goldschmidt überzeugt. Aber er weiß auch: Aus den vielleicht 900 Millionen würde mehr, wenn etwa das Kindergeld erhöht würde. Sam Tanson hält darauf, dass die Individualisierung auf keinen Fall dazu führen dürfe, „dass an Investitionen gespart wird“. Sie hat Zweifel, dass das Vorhaben sich gegenfinanzieren lässt. Auch wenn dazu, wie der Finanzminister angekündigt hat, die noch verbleibende Bereinigung der Steuertabelle um Index-Tranchen herangezogen würde, die laut Gilles Roth etwa die Hälfte des Pakets decken könne. „Das ändert ja nichts an den Mindereinnahmen“, sagt Tanson.

Ein wenig mehr Steuern auf große Einkommen sollen offenbar eingetrieben werden. Das geht aus der Tabelle für die neue Steuerklasse R hervor, die das Land einsehen konnte. Der Steuersatz von 41 Prozent, der in Klasse 1 und 1a zurzeit bei 176 160 Euro Jahreseinkommen beginnt, soll in Klasse R bei 150 000 Euro einsetzen. Der Spitzensteuersatz von 42 Prozent bei 200 000 Euro – zurzeit beginnt er bei 234 870 Euro in den Klassen 1 und 1a. Ein Eingangssteuersatz von elf Prozent würde ab 26 600 Euro wirksam, ähnlich wie zehn Prozent in der zum 1. Januar verbesserten Klasse 1a ab 26 460 Euro. Der Unterschied zwischen Klasse 1a und Klasse R würde darin bestehen, dass die Spreizung der Steuersatz-Tranchen im unteren Bereich der Tabelle breiter wird. Bis zum Steuersatz von 38 Prozent (für Einkommen zwischen 49 500 und 54 500 Euro) liegen die Tranchen in Klasse R um drei bis sechs Prozentpunkte auseinander. Wodurch zum Beispiel auf Einkommen zwischen 44 500 und 49 500 Euro ein Satz von 32 Prozent anwendbar würde. In der aktuellen Klasse 1 hingegen fällt dieser Einkommensbereich in Steuersätze zwischen 30 und 34 Prozent.

So ergibt sich, was Gilles Roth als Entlastung kleinerer Einkommen anführt, mehr Kaufkraft und méi netto vum brutto, wie die CSV im Wahlkampf versprochen hatte. 2023 war sie weit davon entfernt, in der Individualbesteuerung einen Angriff auf die Familie zu sehen. Das wäre altmodisch gewesen. Sie sei „mittelfristig offen“ für eine Debatte über die Abschaffung der Steuerklassen, kündigte ihr Wahlprogramm an. Den letzten Schubs gab ihr die DP.

Gilles Roth hatte 2018 beim Antritt der zweiten LSAP-DP-Grüne-Regierung das Projekt Individualbesteuerung „verlockend und modern“ genannt. Aber auch unrealistisch (d’Land, 14.12.2018). Heute ist er drauf und dran, damit zum Star der CSV zu werden. Vorwürfe von Gewerkschaften muss er sich nicht anhören – er briefte sie am Dienstag in der Mittagspause über seine Reformideen. Lange waren Linksparteien oder zumindest ihre Frauenverbände für die Individualisierung eingetreten, damit Frauen nicht mehr als „Zuverdienerinnen“ angesehen würden. Dann nahm die DP sich der Sache an, jetzt Gilles Roth. Er erzählt von demselben trickle-down wie Luc Frieden, aber mit einem Versprechen auf einen freundlichen, emanzipatorischen Neoliberalismus, der nichts zu tun hat mit Sonntagsarbeit oder mehr Beitragsjahren für eine vorgezogene Rente. Aber natürlich mit einem individualistischen Gesellschaftsbild. Roths Gesprächsbereitschaft erkennen auch die Oppositionsparteien an. Bis zum geplanten Inkrafttreten der Reform im Wahljahr 2028 hätte er Gelegenheit, eine schöne politische Geschichte zu erzählen. Und vielleicht zu Luc Friedens Rivalen um die Spitzenkandidatur der CSV zu werden.

So nimmt es nicht wunder, dass der Finanzminister nicht nur die steuerlichen Erleichterungen hervorhebt, die sein Vorhaben mit sich brächte, sondern auch die gesellschaftspolitischen. „Kein Geschiedener wird mehr sagen müssen, ich heirate noch mal, um in die Steuerklasse 2 zu kommen. Alles wird frei.“ Das werde einem Gesellschaftsbild gerecht, erklärt er dem Land, „und das Gros der Parteien spürt das auch“. Das aktuelle System mit dem Splitting in Klasse 2 sei 1967 eingeführt worden, als das Scheidungsrecht viel strenger, Ehebruch noch ein Straftatbestand war (bis 1972). Die Scheidung im gegenseitigen Einvernehmen wurde erst 1974 unter der DP-LSAP-Koalition eingeführt. „Heute kann sogar ein Ehepartner allein die Scheidung beantragen, da kann ein Mann, der Alleinverdiener ist, seiner Frau erklären: In drei Monaten sind wir auseinander!“ All das ziehe sein Steuerreformansatz in Betracht, so gut es geht. Im konkreten Fall der plötzlich vom Alleinverdiener geschiedenen Frau seien allerdings noch weitere Vorkehrungen nötig.

Eine große Frage wird sein, unter welchen Umständen Verheiratete oder Gepacste, die heute in die Steuerklasse 2 fallen, sich dazu bewegen lassen werden, in die neue Klasse R für alle zu wechseln. Gilles Roth weiß: Nur 85 Prozent der in Klasse 2 Steuerpflichtigen kämen in Klasse R „besser weg“. Für die verbleibenden 15 Prozent, bei denen die Einkommensunterschiede zwischen den Partner/innen größer sind als 80 zu 20 Prozent, ist der Wechsel nicht interessant. Ebenso für Paare mit einem Alleinverdiener.

Deshalb sollen 20 Jahre Übergangsphase für den Wechsel gelten. Was vielleicht nicht reicht. An die 100 000 Steuerdossiers fielen unter die 15 Prozent, sagt Roth, je zur Hälfte von Ansässigen und Nicht-Ansässigen. Unter den Ansässigen-Dossiers seien 22 000 Rentner-Haushalte, in denen eine Person noch arbeitet, sowie knapp 30 000 Aktiven-Haushalte mit nur einem Verdiener. Doch der andere könne Einkommen haben, vielleicht aus einer Vermietung, und die 50 000 Dossiers von Nicht-Ansässigen könnten Paaren zuzurechnen sein, von denen vielleicht die Partnerin in Luxemburg arbeitet, der Partner in Frankreich. „Das ist sehr komplex. Ich würde es gerne sehen, dass meine Nachfolger in den 20 Jahren Übergangszeit Anreize zum Wechseln setzen.“ Die Klasse 2 einfach weiterbestehen zu lassen, bis sie mit der Zeit von selber verschwindet, kommt für ihn nicht infrage: „Wer heute in Klasse 2 Spitzenverdiener ist und Alleinverdiener, kann mit Splitting bis zu 20 000 Euro Rückzahlung bekommen. Das unbegrenzt lange bestehen zu lassen, wäre nicht gerecht.“
Im Herbst will Gilles Roth ein avant-projet in die Konsultation geben. Vielleicht zur selben Zeit, wenn ein Text für eine Rentenreform vorliegen soll. Sein Text dürfte freundlicher aufgenommen werden. Und sollte es am Ende mit der Individualbesteuerung doch nicht klappen, vielleicht weil Luxemburg sonst das Geld für eine Luftabwehr fehlt, wird der Finanzminister sagen können, er habe sein Bestes versucht.

Peter Feist
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