Gedankenblitze aus Cannes (2)

Ein Streifzug durch eine (immer noch) verwüstete Welt

Un simple accident, par Jafar Panahi
Foto: MK2
d'Lëtzebuerger Land vom 30.05.2025

Marc Trappendreher Die Preisvergabe bei den Filmfestspielen von Cannes 2025 zeigt eine klare inhaltliche Ausrichtung: Das Festival setzt auf politisches, engagiertes und zugleich ästhetisch anspruchsvolles Kino, das widerständiges Potenzial in sich trägt. Cannes positioniert sich damit erneut als Bühne für Dissidenz und freie Meinungsäußerung. Gleichzeitig bleibt das Festival seiner Tradition treu, bekannte Autorenfilmer zu würdigen. Mit Joachim Trier, den Dardenne-Brüdern, Bi Gan und Kleber Mendonça Filho wurden Filmschaffende ausgezeichnet, die für ein narratives, oft poetisches oder formal anspruchsvolles Kino stehen. Diese Wahl unterstreicht den cinephilen Anspruch des Festivals und die kontinuierliche Förderung von Regisseurpersönlichkeiten mit klarer Handschrift. Cannes bleibt seiner Rolle als internationale Plattform treu, auf der neue filmische Perspektiven sichtbar werden. Auffällig ist zudem die Präsenz starker weiblicher Hauptrollen und bislang weniger bekannter Schauspielerinnen, die dieses Jahr besonders in den Darstellerkategorien hervorgehoben wurden. Auch wenn der Regiewettbewerb von Männern dominiert wurde, bleibt das Festival sensibel für Fragen der Repräsentation und Vielfalt. Insgesamt steht die Preisverleihung der 78. Filmfestspiele von Cannes im Zeichen einer Balance aus politischer Haltung, cineastischer Tradition und internatio-
naler Vielfalt – ein Festivaljahrgang, der das Kino in seiner widerständigen, humanistischen und künstlerischen Dimension zelebriert.

Jeff Schinker Ein bisschen liest sich der diesjährige Palmarès wie ein Kompromiss zwischen politisch engagierten Filmen, an denen die Jury kaum vorbeikommen konnte, den Usual Suspects, die es auszuzeichnen galt (manchmal erhält man den Eindruck, dass die Jury sich gar nicht traut, die Dardenne-Brüder leer ausgehen zu lassen), und formalen Wagnissen, die ex aequo mit dem Prix du Jury ausgezeichnet wurden (Sound of Falling von Mascha Schilinski und Sirât von Oliver Laxe). 

Fast symptomatisch dafür ist die Palme d’Or, die wohl nach Luxemburgs Scheitern bei der diesjährigen Eurovision riskiert, den Nationalstolz des Großherzogtums zu schüren und ADR-Politiker zu irritieren – eine Luxemburger Palme d’Or für einen iranischen Film ganz ohne Luc Schiltz oder Sophie Mousel? Spaß beiseite. Jafar Panahis Un simple accident handelt von einem Werkstattangestellten, der glaubt, seinen Folterer in einem Familienvater, der wegen einer Autopanne in seiner Werkstatt gestrandet ist, wiederzuerkennen: Er entführt ihm am hellichtem Tage, um ihn in der Wüste lebendig zu begraben, bevor ihn die vehemente Verneinung des Familienvaters zweifeln lässt. Un simple accident ist ein Film, der die Dringlichkeit seiner Drehbedingungen nicht mehr, wie Panahi es im vielschichtigen Metakino seines Vorgängers No Bears tat, konkret thematisiert, sondern sie in seiner Handlung selbst verdichtet. Panahis Film spiegelt dabei das politische Engagement des Festivals – Un simple accident entstand nach Panahis letzter Inhaftierung in Teheran, am Ende derer der Regisseur einen Hungerstreik begonnen hatte, der zwölfte Film des iranischen Regisseurs wurde ohne offizielle Erlaubnis der Islamischen Republik gedreht.

Dass der zweite iranische Wettbewerbsbeitrag, Saeed Roustayis Woman and Child, leer ausging, war einerseits vorhersehbar: Nachdem Roustayi wegen Leïla’s Brothers (im Cannes-Wettbewerb 2022) sechs Monate inhaftiert wurde, hat der iranische Regisseur die Drehbedingungen im Iran akzeptiert und seinen Schauspielerinnen bis auf die Ausnahme eines kleinen Mädchen die Kopftuchpflicht auferlegt, womit Roustayi laut einiger kritischer Stimmen seine künstlerische Integrität aufgegeben hätte. Andererseits war es etwas bedauerlich, da Roustayi auf durchaus meisterliche Art aus genau diesen künstlerischen Zwängen eine Allegorie über weibliche Unterdrückung im Iran gefilmt hat – mit einer Parinaz Izadyar, die den Preis für die beste weibliche schauspielerische Leistung definitiv verdient hätte.

M. T. Das Begriffspaar von „Appell und Angebot“ liefert uns möglicherweise einen Denkrahmen, um die Filme des Cannes-Wettbewerbs 2025 nicht nur als Einzelwerke, sondern auch im Dialog zueinander zu lesen. Es zeigt sich darin ein grundlegendes Spannungsverhältnis zeitgenössischen Kinos: zwischen dem Bedürfnis, auf die Gegenwart zu reagieren – laut, dringlich, direkt –, und der Entscheidung, sich der Welt mit vorsichtiger Offenheit, tastend und suchend zu nähern. Die „Appelle“ im diesjährigen Wettbewerb – etwa Dossier 137, Eddington, Two Prosecutors oder Die, My Love, sicherlich Jafar Panahis Un simple accident – sind überaus vielschichtige, sehr unterschiedliche Filme, die das Kino in allen Fällen als ein Mittel der Dringlichkeit begreifen. Sie stellen Thesen auf, wollen aufwühlen, skandalisieren, ironisieren, stören. Ihre Mittel sind oft grell, überspitzt, schwarzhumorig – eine Ästhetik, die nicht auf leise Nuancen setzt, sondern auf Konfrontation. Diese Werke treten mit einem klaren Anspruch an: Stellung zu beziehen, Missstände sichtbar zu machen, Strukturen bloßzulegen. Das Publikum soll nicht nur sehen, sondern reagieren – mit Zustimmung, Ablehnung, aber in jedem Fall: mit Haltung.

Im Kontrast dazu stehen jene Filme, die sich als „Angebote“ verstehen lassen – Sound of Falling und Sirāt sind hier paradigmatisch. Ihre Stärke liegt in der Zurückhaltung, in der Offenheit der Zeichen, in der Absage an eindeutige Botschaften. Die Bilder, die sie hervorbringen, fordern keine sofortige Lesart, sondern laden ein zur Resonanz. Es sind Filme, die ihre Bedeutung nicht behaupten, sondern anbieten – als Möglichkeitsraum, nicht als Erklärung. Die Struktur ist oft fragmentarisch, elliptisch, fast kontemplativ. Statt Reaktion zu provozieren, fördern sie ein Innehalten – ein Nachdenken, das sich erst zwischen Bild und Betrachter/in entfaltet. Diese doppelte Bewegung – Appell und Angebot – spiegelt sich auch in der Preisvergabe. Der Hauptpreis für Un simple accident markiert deutlich den Vorrang des Appells. Panahis Film ist ein politischer Akt, entstanden im Widerstand, getragen von der Notwendigkeit, zu sprechen – auch und gerade unter Bedingungen des Schweigens. Der Film steht damit exemplarisch für das Kino als Intervention. Auch O Agente Secreto von Kleber Mendonça Filho – mit Preisen für Regie und Darsteller – operiert im Modus des Polit-Thrillers: stilisiert, pointiert, alarmierend. Gleichzeitig wurden mit Filmen wie Sirāt von Óliver Laxe (Jury-Preis) oder Resurrection von Bi Gan (Sonderpreis) auch Werke ausgezeichnet, die der anderen Seite dieses Spektrums zuzuordnen sind: Filme, die sich entziehen, die weniger auf Antworten als auf Erfahrung setzen. Sie sind keine klar formulierten Aussagen, sondern Empfindungsräume, in denen Bedeutung nicht unbedingt vermittelt, sondern vielmehr erlebt wird.

J. S. Und dennoch scheint es irgendwie, als habe sich die Jury in dieser direkten Konfrontation zwischen Appell und Angebot meist für den Appell, also für das laute, das plakative Kino entschieden. Abgesehen von Kelber Menonça Filhos ausgezeichnetem O Agente Secreto und Bi Gans Resurrection, aus dem die Kritiker in der morgendlichen Pressevorführung in Scharen hinausgelaufen sind – Resurrection ist ein Film wie ein langer Traum, dessen Sinn und Handlung sich einem quasi vollständig entziehen, dem es aber nicht immer gelingt, die Ratlosigkeit, die er auslöst, auf ästhetischer Ebenen zu transzendieren.

Nur so erklärt sich, wieso die Dardenne-Brüder erneut im Palmarès vertreten sind. Ich bin übrigens mit deiner Eingliederung der frères Dardenne in der Kategorie des narrativen, poetischen und formal anspruchsvollen Kinos nicht ganz einverstanden: Jeunes mères ist sehr wohl belgischer Social Realism in Höchstform, und die erzählerische Fragmentierung tut dem Kino der Dardenne-Brüder richtig gut, da diese sich diesmal auf vier Schicksale blutjunger Mütter fokussieren, die sich aufgrund traumatischer Erfahrungen mit einer alkoholabhängigen oder einer abwesender Mutter, einem verantwortungslosen Partner oder Drogenproblemen die Frage stellen, ob es ihnen gelingen kann, aus einem Netz konditionierter Toxizität auszubrechen, um ein Kind großzuziehen. So zwanglos und narrativ frei war die Filmsprache von Jean-
Pierre und Luc Dardenne selten.

Dennoch bleibt Jeunes Mères Dardenne by the numbers – und wenn man weibliche Selbstfindung auszeichnen wollte, wäre man mit der spanischen Regisseurin Carla Simón, die 2022 in Berlin den Goldenen Bären für Alcarràs erhielt, besser bedient gewesen. Ihr Romería ist eine formal spannende Autofiktion, eine poetische Ermittlung, die zeigt, dass sich die Lücken und Lügen der Vergangenheit bestenfalls mithilfe der filmischen Gestaltungsmittel schließen lassen. Simóns Eltern sind beide an den Folgen einer Aids-Erkrankung gestorben, in Romería folgen wir Simóns 18-jährigem Alter Ego Marina, die ihre leiblichen Großeltern aufsucht. Und dabei unter anderem erfährt, dass ihr Vater nicht etwa, wie es das Familiennarrativ bisher wollte, 1987 starb, sondern erst 1992: Aus Scham hatte die Familie den Vater im Haus eingesperrt, um dem Gerede im Dorf aus dem Weg zu gehen.

Und weil du den Dialog zwischen den Filmen erwähnt hast, Marc: Romería ist quasi Simóns poetische Antwort auf Alpha, Julia Ducourneaus bildlich und formal sehr ausdrucksstarke allegorische Auseinandersetzung mit Aids-Epidemie und Heroinsucht – ein Thema, das auch zentral ist in Mario Martones Furori.

M. T. Cannes 2025 zeigt somit auch in der Preisvergabe ein dialektisches Kinoverständnis: Es ehrt sowohl das Kino des Widerstands als auch das der Ahnung, das Kino der Analyse ebenso wie das der Andeutung. Zwischen Appell und Angebot entfaltet sich ein Spannungsfeld, in dem sich das Kino – in seiner politischen wie poetischen Dimen-
sion – in Bewegung hält. Vielleicht liegt genau darin seine bleibende Relevanz: dass es beides kann – sprechen und schweigen, fordern und zeigen, zwingen und einladen.

J. S. Nur Joachim Triers Sentimental Value – mit dem Grand Prix ausgezeichnet – entzieht sich dieser Dichotomie zwischen Appell und Angebot. Subtil und elegant antwortet dieser Film auf Linklaters spielerische Medi-
tation über das, was Kino und Fiktion bewirken können: Ein (Norway oblige) alkoholsüchtiger Vater (Stellan Skarsgård) und Regisseur hat nach 15 Jahren filmischer Abstinenz das persönlichste Drehbuch seines Lebens geschrieben, in dem der Suizid seiner Mutter verhandelt wird. Die Rolle hat er seiner Tochter und Theaterdarstellerin Nora (Renate Rensve) auf den Leib geschrieben. Nora will jedoch nicht mitspielen – mit dem Vater redet sie kaum, was unter anderem daran liegen könnte, dass der nie zu ihren Vorführungen kommt („Ich hasse ja nicht das Theater per se, ich hasse es nur, ins Theater zu gehen“, entgegnet er) –, weshalb der Vater die Rolle einer bekannten, von Elle Fanning verkörperten Hollywood-Schauspielerin anbietet.

Sentimental Value kann man als Joachim Triers Antwort auf Todd Haynes May December lesen. Tatsächlich ist es aber eine überaus melancholische Abhandlung über das Verflechten von Fiktion und Wirklichkeit, über die gleichermaßen heilende wie auch zerstörerische Kraft der Fiktion, ganz als ob sich hier die Geister von Plato und Aristoteles im seelischen Zwiespalt von Triers komplexen Figuren streiten würden. In dem Sinne bestätigt das von Trier inszenierte Spannungsfeld, das sich innerhalb der vielen Fiktionsschichten von Sentimental Value auftut, deine Analyse des diesjährigen Wettbewerbs: Der Einladung ihres Vaters, in seinem Film mitzuspielen, kann sich Tochter Nora trotz ihrer anfänglichen Verneinung gar nicht entziehen; das Medium Film wird hier zum Zwang – und der Zwang zum Befreiungsschlag, zum Symbol einer möglichen Versöhnung. Und etwas versöhnt mit dieser verwüsteten Welt verlässt man auch die 78. Filmfestspiele von Cannes.

Jeff Schinker, Marc Trappendreher
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