Die kleine Zeitzeugin

Die jährliche Dosis Tod

d'Lëtzebuerger Land vom 28.10.2022

Diese Mini-Dosis gönnt sich die Gesellschaft schon noch, vielleicht Psycho-Hygiene, gratis. In gerade noch verkraftbaren Dosen wird es ernst, zwischendurch, nur kurz, keine Angst. Dokus über Palliativstationen, Menschen von denen es heißt, dass sie eben noch mitten im Leben standen, über Todgeweihte, die keiner mehr so nennt. Stimmungsvolles Flanieren über Friedhöfe, die diversen Usancen, Menschen unter die Erde zu verfrachten, oder anderswohin, die Angebote werden schließlich immer verführerischer. Feuer? Wasser? Luft? Make your choice, und dann die Après-Party für die friends. Naja… eigentlich sollten sie sich die Haare ausreißen, sich die Leiber vom Kleide reißen und untröstlich sein. Schreien. Leiden. Statt lustig zu sein, auf meine Kosten.

Bekömmlich, light ist die jährliche Dosis. Und ja auch nur für die Sitzen- und Hängengebliebenen. Die Zurückgebliebenen. Die immer noch da rumhängen. Statt zu fliegen. Dem zu entfliegen, wie zu Weihnachten, all das Analoge ist nur was für die, die es nicht schaffen. Ihn nicht schaffen. Den Exodus, vor dem Exitus, oder auch nur dem Gedanken daran. Gedenken.

Mit den Füßen durchs faulende Laub scharren, herum hüsteln, Glotzen auf ein Grab, das man immer nie findet, das Schwarze Loch der Familiengeschichte, der vor sich hin murmelnde Mann im Rock kommt vorbei gehetzt, er muss noch so viele Tote absolvieren. Ein paar Hände drücken, die man einmal im Jahr drückt, höchstens, sich dann verdrücken. Sich trollen. Die Trümmer einer Sippe besichtigen, zu der man erstaunlicherweise gehört, die Coolen, die Jungen sind natürlich nicht da, sie sind woanders. In der Welt. Unterwegs in der Welt, was sollen sie da auch herumstehen, mit uns alten Untergangster*innen, zeigen sich die Boomer*innen verständnisvoll. Ist ja nicht mehr anno dazumal, als Matriarchin in Black die familiäre Garde abnahm.

Stalins Sarg ist von wundersamstem nie gesehenem Rot, für das ich keinen Namen finde, zwischen Pink und Knall. Er schaut aus wie aus Schilf, oder Chiffon, leicht, er könnte wegschweben. Über diese durch die endlosen Weiten der östlichen Ebenen, ist das nicht trefflich formuliert (so à la Scholl-Latour?), sich schiebende tausendköpfige Masse, dieses sich lautlos durch die gesamte Union der Sowjetrepubliken schiebende tränentröpfelnde Millionenkopfmonstrum. Über die alles überragenden wandelnden Heiligenbilder, der Mann mit den wachsamen Augen, sein immergleiches Konterfei. Allmächtig, allwissend, allgegenwärtig. Er liegt im von einem nachtschwarzen Rappen gezogenen Pinksarg, das schneeglöckchenweiße Gesicht unter einer transparenten Ausbuchtung im Käseglockenstil, er liegt da wie ein Pilot, wie Schneewittchen, wie Einhornprinzessin in der Bonbonnière. „Das größte Genie in der Geschichte der Menschheit“, wird über alle hinweg schweben, den Tausende von Kilometern langen totenstillen, nur von Schluchzbeben erschütterten fahlen Trauerwurm, und vor dem Mausoleum erklingt „Schlaf gut mein Spatz“, ein in Trauertrance versetzendes Schlaflied. Das auch die Zeitzeugin in Schlaf versetzt, die gestehen muss, dass sie nicht leibhaftig anweste als Josip Wissarionowitsch Stalin zu Grabe getragen wurde, sie war leider nicht unter den europäischen Trauergästen, den beflissenen Vertreter*innen der kommunistischen Parteien, den ehrerbietigen Intellektuellen mit den John Lennon Brillen. Nein, sie blieb nur in einer mitternächtlichen Arte-Doku hängen, die sie dazu verdammte einem millionenfachen Mörder das letzte Geleit zu heben. So langsam reicht’s. Eben war Elisabeth.

Ich zögere, ein Foto auf FB zu posten. Es zeigt mich von hinten, ich gehe irgendwohin, wo es schön ist, Natur. Das Foto ist in Farbe. Wenn solche Fotos auf FB in Schwarzweiß gepostet werden, weiß man was los ist. Das kommt immer öfter vor in meiner Peer Group, immer öfter ist einer in Schwarzweiß unterwegs dorthin wo es schön ist. Er oder sie ist allein unterwegs. Noch Jahre nach der Auswanderung wird ihm oder ihr zum Geburtstag auf FB gratuliert werden.

Michèle Thoma
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