Wegen des drohenden Misserfolgs seiner Firma DHN gerät der Ärzteverband AMMD zusehends unter Druck.
Dem „Staat“ wirft er „Sabotage“ vor. Belegen konnte er diesen Vorwurf bislang nicht

Flucht nach vorn

Nur 39 Ärzt/innen nutzen bislang die Software  von DHN
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 28.10.2022

Boom Die Bombe ist geplatzt. Am Dienstagnachmittag setzte die AMMD (Association des médecins et médecins-dentistes) den CNS-Präsidenten Christian Oberlé in einem Brief darüber in Kenntnis, dass der Ärzteverband seine beiden Vertreter (Präsident Alain Schmit und Generalsekretär Guillaume Steichen) unverzüglich aus dem nach dem Tripartite-Prinzip zusammengesetzten Verwaltungsrat der wirtschaftlichen Interessengemeinschaft Agence eSanté zurückzieht und einstweilen auch keine Nachfolger ernennt. Diese Entscheidung hatten rund 250 AMMD-Mitglieder vor zwei Wochen auf einer außerordentlichen Generalversammlung getroffen. Der Ärzteverband begründet den Beschluss damit, dass seine Ideen und Vorschläge nicht ausreichend von der Agence eSanté berücksichtigt worden seien. Die Initiativen der AMMD seien sogar „sabotiert“ worden, heißt es in dem Brief an den CNS-Präsidenten, der ebenfalls Vorsitzender von eSanté ist. Es folgen einige konkrete Beispiele zum dossier de soins partagé (DSP): der „opt-out“-Ansatz (wenn die Versicherten nicht widersprechen, wird automatisch eine Akte für sie angelegt) stelle datenschutzrechtliche Probleme, wegen der fehlenden digitalen Signatur seien die Daten nicht rechtsgültig. Vereinfacht ausgedrückt will die AMMD damit sagen, das DSP sei in seiner aktuellen Form nutzlos, was sie schon seit Jahren kritisiert.

Um das zu ändern, hatte der Ärzteverband 2019 einen Alleingang gewagt und mit dem Softwareunternehmen Have a Portfolio die privatrechtliche Firma Digital Health Network sàrl. (DHN) gegründet. DHN entwickelte eine aus zwei Modulen (eAdministrative und eConnector) bestehende Software, die es Ärzt/innen ermöglicht, auf den Servern der Agence eSanté gespeicherte Daten auf ihren Rechnern zu lesen, und eine dazugehörige App, die es den Patient/innen erlaubt, mittels QR-Code die bezahlte Arztrechnung auf digitalem Weg an die Krankenkasse zu schicken. Dieses paiement accéléré – obwohl nur eine Zwischenstation auf dem Weg zu dem an das Drittzahlerprinzip angelehnte paiement immédiat direct (PID) – sollte eine Win-Win-Situation schaffen: Die Patient/innen sollten ihr Geld schneller von der CNS zurückbekommen und gleichzeitig sollte die Gesundheitskasse Papier, Personal und Kosten sparen. Vor einem Jahr ging die Gesondheets-App von DHN offiziell an den Start.

Inzwischen gilt das Vorhaben als vorläufig gescheitert. Von den rund 2 500 (Stand 2017) in Luxemburg praktizierenden und den 700 von DHN als unmittelbare Zielgruppe ausgewiesenen Ärzt/innen haben bislang lediglich 102 die Software von DHN installieren lassen. Tatsächlich genutzt wird sie aber nur von 39 Ärzt/innen – und selbst von denen nicht besonders oft. Von den rund drei Millionen Arztrechnungen, die zwischen dem 23. September 2021 und dem 31. Mai 2022 von der CNS rückerstattet wurden, kamen nur 3 165 (0,11 Prozent) per App bei der Gesundheitskasse an, wie aus der Antwort des Sozialministers Claude Haagen (LSAP) auf eine parlamentarische Anfrage der DP-Abgeordneten Carole Hartmann hervorgeht. Dem Land schreibt die AMMD auf Nachfrage, die geringe Nutzerzahl sei darauf zurückzuführen, dass DHN die Installation seiner Software in Arztpraxen schon im November 2021 gestoppt habe, um den Schaden zu begrenzen, der durch die Sabotageversuche „de l᾽État et ses démembrements (agence eSanté, CNS, CCSS, etc.)“ entstanden sei. Trotzdem funktioniere das System „parfaitement“ auch ohne „intervention humaine“, heißt es in der Antwort der AMMD weiter, die 39 Ärzte und ihre Patient/innen „semblent pleinement satisfaits“.

Nettement insuffisant Vor der Generalversammlung vom 12. Oktober richtete die AMMD jedoch einen Brief an ihre Mitglieder (der dem Land vorliegt), in dem sie erklärt, 39 Nutzer seien „nettement insuffisant pour avoir un poids dans les discussions politiques et techniques“. Deshalb bedauert die AMMD in dem Schreiben, „que de nombreux médecins intéressés n᾽ont toujours pas fait les démarches pour installer l᾽eConnector, et que la majorité de ceux qui l᾽ont installé ne l᾽utilisent pas assez abondemment“. Und ruft ihre Mitglieder dazu auf, sich bei DHN einzuschreiben.

Über die Gründe für den Misserfolg gehen die Meinungen freilich auseinander. Die CNS mutmaßt, bei vielen Ärzt/innen bestünden noch gewisse Vorbehalte gegenüber der Digitalisierung insgesamt. Das sei wahrscheinlich der Hauptgrund dafür, dass weder das DSP noch die Gesondheets-App der AMMD viel genutzt würden, sagt Christian Oberlé. Fragen stellten sich aber auch hinsichtlich der Nutzerfreundlichkeit, sowohl beim DSP als auch bei der Software von DHN, räumt Oberlé ein. Wie sonst sei es zu erklären, dass 250 AMMD-Mitglieder auf der Generalversammlung zwar für den Austritt aus dem Verwaltungsrat von eSanté stimmten, doch nur 39 das System von DHN nutzen?

Die AMMD spricht hingegen von staatlicher „Blockade“ und „Sabotage“. Sie begründet das damit, dass der „Staat“ der Gesondheets-App von DHN keinen Zugriff auf das DSP gewähre und das Ausstellen von Krankenscheinen und Rezeptverordnungen auf digitalem Weg noch nicht ermögliche. Dadurch würden die Zusatzfunktionen der App eingeschränkt, mit denen DHN auf seiner Homepage wirbt. Dienste wie das Teilen von „digitalen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen“ mit dem Arbeitgeber, „Verwaltungsdokumenten aus dem Gesundheitswesen“ mit Kliniken und „digitalen Kostenvoranschlägen mit den öffentlichen und privaten Versicherern“ wollte DHN schon Mitte 2021 per Gesondheets-App anbieten. Bislang können Patient/innen damit aber lediglich das paiement accéléré und das Buchen von Arztterminen „von ihrem Telefon aus“ durchführen.

Mit dem paiement immédiat direct (PID) wirbt DHN überraschenderweise nicht. Dabei will die CNS das PID schon Mitte nächsten Jahres einführen. Im Gegensatz zum paiement accéléré braucht der Patient dann keine Rechnungen mehr einzusenden – weder digital, noch per Post –, sondern zahlt nur seinen Eigenbeitrag, während die CNS den Kassenbeitrag direkt an den Arzt überweist. Auch das soll künftig digital abgewickelt werden, was die (sicherheits-) technischen Ansprüche an die Software noch erheblich erhöht. Laut CNS soll Mitte 2023 auch das Verschicken von Krankenscheinen und Rezeptverordnungen ermöglicht werden. Bei der eSanté hatte man vor einem Jahr Zweifel daran geäußert, ob DHN als kleines und unerfahrenes Startup alle sicherheitsrelevanten Anforderungen erfüllen könne, die von der EU hinsichtlich der Digitalisierung des Gesundheitswesens vorgegeben werden, insbesondere in einem Land mit vielen Grenzpendler/innen (d᾽Land vom 03.12.2021).

Konkurrenz Kurz nach der Einführung der Gesondheets-App von DHN gab die CNS eine eigene App heraus. Bislang läuft sie noch über die Software von DHN, doch das könnte sich künftig ändern. Sims Solutions und Maveja, Herausgeber der Arztpraxen-Verwaltungssoftwares Medicus und Emed, haben in den vergangenen Monaten gemeinsam mit dem Softwareentwickler BMS ein Konkurrenzprodukt zu DHN erarbeitet. Ihre Software hat ebenfalls auf die Server von eSanté Zugriff, kann die darauf gespeicherten Daten lesen und ermöglicht den digitalen Austausch von Dokumenten. Während die Nutzung des eConnectors von DHN durch andere Firmen an bestimmte Exklusivitätsklauseln gebunden sei, sei der von Sims, BMS und Maveja ein „öffentlicher Connector“, der in Zusammenarbeit mit der CNS entwickelt worden sei und jedem Arzt und Patienten offen stehe, erklärt Frank Schreiner, Geschäftsführer von Sims, im Gespräch mit dem Land. Im November oder Dezember soll er „in Produktion“ gehen, im Januar wolle man damit beginnen, das Modul in den Arztpraxen zu installieren. Rund 1 100 Ärzt/innen nutzten laut Schreiner bereits die Verwaltungssysteme Emed und Medicus. Wenn das PID im Juli 2023 eingeführt wird, will Sims die neue Software auf den Rechnern von mindestens 500 Ärzt/innen eingerichtet haben.

DHN deutet es nun als „Sabotage“, dass die CNS ihr einerseits die Genehmigungen für das Betreiben ihres eConnectors und ihrer App „später als vereinbart“ erteilt habe (mit einer früheren Genehmigung hätte DHN sich einen vermeintlichen Wettbewerbsvorteil sichern können) und die Kostenrückerstattung nur für Arztrechnungen gilt, nicht aber für das Versenden von digitalen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, Rezeptverordnungen und anderen Dateien. In ihrem Geschäftsmodell hatte DHN diese Zusatzleistungen fest einkalkuliert.

Der Agence eSanté unterstellt DHN, sie habe absichtlich blockiert, um der Firma der AMMD zu schaden, beziehungsweise die Agentur sei inkompetent und laufe der technologischen Entwicklung hinterher. Ferner hätten die CNS und die anderen Anbieter ihre Software kopiert. Sims weist diesen Vorwurf zurück, ihr eConnector funktioniere zwar ähnlich wie der von DHN, sei aber keine Kopie. Die CNS betont ihrerseits, die digitale Landschaft müsse vielfältig und offen sein, auch für andere Akteure mit guten Ideen. Oder anders ausgedrückt: Ein Exklusivrecht oder einen Wettbewerbsvorteil wollte sie DHN nicht gewähren, auch wenn ihr Hauptanteilseigner ein gemeinnütziger Interessenverband von freiberuflichen Ärzt/innen ist.

Schulden Die Folge davon ist, dass DHN in ernsthaften finanziellen Schwierigkeiten steckt. Die Geschäftsbilanz von 2021 weist rund 3,6 Millionen Euro an Schulden aus, 2,3 Millionen mehr als im Vorjahr. Inzwischen dürften sie noch weiter gewachsen sein. Die meisten davon sind wohl auf Eigentumsrechte für die digitalen Produkte zurückzuführen, die von Have a Portfolio entwickelt wurden. Angestellte hat DHN bislang nicht, obwohl die Firma von sich behauptet, Arbeitsplätze in Luxemburg zu schaffen.

Dass DHN in finanziellen Schwierigkeiten steckt, ist auch der Regierung nicht entgangen. Deshalb hatte Sozialminister Claude Haagen eine Mediation eingeleitet, um herauszufinden, ob DHN bereit sei, die von ihr entwickelten digitalen Lösungen an die Agence eSanté abzutreten. „Leider wollten die AMMD und DHN aber schließlich nicht mit auf diesen Weg gehen, so dass bis heute die Eigentumsrechte der Produkte noch immer bei DHN liegen“, antworten das Sozial- und das Gesundheitsministerium auf Land-Nachfrage. Laut DHN habe die Regierung nie ein konkretes, schriftliches Angebot vorgelegt; auf indirektem Weg seien den Verantwortlichen der Firma zwar Entschädigungssummen mitgeteilt worden, die jedoch in keinem Verhältnis zu den reellen Entwicklungskosten gestanden hätten. Weder das Sozialministerium noch die AMMD wollten auf Nachfrage einen Betrag nennen.

Trotz dieser Rückschläge zeigt die AMMD sich weiter von ihrem Produkt überzeugt. DHN sei ein „outil innovant et extrêmement performant et qui est en avance sur tout ce que l᾽État (que ce soit la CNS ou l᾽agence eSanté ou les ministères concernés) propose et est en train de développer“, antwortet ihr Generalsekretär dem Land in einer Stellungnahme. Christian Oberlé ist ebenfalls optimistisch, dass die Gesellschaft noch zu retten sei: „Mit einigen Anpassungen an unsere Architektur kann auch DHN im kommenden Jahr den PID anbieten.“ Das eröffne der Firma der AMMD neue Möglichkeiten. Und damit neue Einnahmequellen.

Druck Handfeste Belege für ihre Vorwürfe der staatlichen „Sabotage“ kann (oder will) die AMMD auf Nachfrage nicht vorlegen. Auch die Motivation des „Staates“, DHN willkürlich und absichtlich zu blockieren oder zu sabotieren, wird nicht ersichtlich. Eher scheint es so zu sein, dass der Vorstand der AMMD wegen DHN erheblich unter Druck steht. Aus gut informierten Kreisen wird berichtet, dass längst nicht mehr so viele Ärzt/innen Mitglied in der AMMD seien als noch vor einigen Jahren. Mit der Vereinigung Médecins salariés hospitaliers hat sich zudem Ende letzten Jahres ein Konkurrenzverband konstituiert, der das freiberufliche Modell, das die AMMD vertritt, hinterfragt. Nicht zuletzt hat die AMMD sich mit der Gründung von DHN auf ein privatwirtschaftliches Terrain begeben, das für sie Neuland ist, und das auch Firmen anzieht, die bereits über jahrelange Praxiserfahrung im Bereich von auf Arztpraxen zugeschnittene Betriebssoftware verfügen. Von der AMMD war es naiv zu glauben, dass diese Unternehmen ihre monopolistischen Bestrebungen zulassen oder ihr einen Wettbewerbsvorteil gewähren würden.

Wie hart umkämpft der Markt der Digitalisierung im Gesundheitswesen tatsächlich ist und wie groß der Interessenkonflikt der AMMD als Ärztevertretung einerseits und Privatunternehmer andererseits, zeigt ein rezentes Beispiel. Anfang Juli schrieb die AMMD einen von Alain Schmit und Guillaume Steichen unterzeichneten Brief an fünf Ministe-rien und die CNS. Darin informiert der Ärztverband Xavier Bettel, Paulette Lenert, Marc Hansen, Sam Tanson und Claude Haagen sowie Christian Oberlé darüber, dass ein von der Direction de la Santé bei Grant Thornton Advisory in Auftrag gegebenes Audit „des failles critiques de sécurité“ in der Verwaltungssoftware Emed 4.0 festgestellt habe, die in vielen Arztpraxen genutzt werde. Entwickelt wurde Emed 4.0 von den DHN-Konkurrenten Maveja und BMS. Der Agentur eSanté wirft die AMMD vor, Emed trotz Sicherheitsmängeln eine Konformitätsbescheinigung für die Nutzung ausgestellt zu haben und droht damit, dass alle Privatpraxen, auf denen die Verwaltungssoftware installiert wurde, ihren Rechner vom Netz nehmen könnten.

In ihrer Antwort weist die Gesundheitsministerin darauf hin, dass das Audit nur die Nutzungsbedingungen von Emed 4.0 in den Maisons médicales überprüft habe und es die AMMD gewesen sei, die den Vertrag mit Maveja abgeschlossen habe, in der Zeit, als sie noch für die informatische Ausstattung der Maisons médicales zuständig war (inzwischen haben der Staat und sein Informatikdienst CTIE diese Aufgabe übernommen). Ferner gehöre es nicht zu den gesetzlichen Aufgaben der eSanté, Software auf ihre Sicherheit hin zu überprüfen, in privaten Arztpraxen schon gar nicht. Sodass die Anschuldigungen der AMMD weitgehend entkräftet wurden. Zudem sollte die Regierung eigentlich auch ohne Hinweis der AMMD über die Resultate des Audits Bescheid wissen, weil es schließlich die Direction de la Santé war, die die Prüfung bei Grant Thornton in Auftrag gegeben hatte. Und deshalb bleibt in dieser Angelegenheit der fade Beigeschmack, dass es der AMMD lediglich darum gegangen sein könnte, die Agence eSanté und einen direkten Konkurrenten von DHN bei der Regierung zu diskreditieren.

Planwirtschaft Der wirtschaftliche und finanzielle Druck, dem die AMMD durch den drohenden Misserfolg von DHN ausgesetzt ist, könnte auch das aggressive Vorgehen von Alain Schmit gegenüber Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) in anderen Angelegenheiten erklären. Denn obwohl Lenert in ihren kürzlich hinterlegten Gesetzentwürfen zum virage ambulatoire und zu den kommerziellen Arztgesellschaften mehrere langjährige Forderungen der AMMD übernommen hat, lässt Schmit keine Gelegenheit aus, um ihr „Planwirtschaft“ und „unverantwortliches Handeln“ zu unterstellen. Ungeklärt ist indes, wer im Falle eines Konkurses von DHN juristisch haftbar sein würde. Schmit, Steichen und AMMD-Vizepräsident Carlo Ahlborn legten Anfang 2021 ihre Mandate als Geschäftsführer nieder. Ersetzt wurden sie durch die Juristin der AMMD, Sandra Faber, und die AMMD selbst als gemeinnütziger Verein. Als bénéficiaire effectif ist der gesamte Vorstand aufgeführt.

Mit der Entscheidung, den Verwaltungsrat der Agence eSanté zu verlassen, könnte die AMMD sich noch weiter isolieren. Künftig wird sie dann gar nicht mehr über die Digitalisierung des Gesundheitswesens mitreden können. Andererseits wird ihr auch niemand mehr Interessenkonflikte oder Interessenvermischung vorwerfen können, weil sie als Hauptanteilseigner eines privatrechtlichen Unternehmens in einem öffentlichen Gremium sitzt, das Entscheidungen trifft, die die Zukunft dieses Unternehmens unmittelbar beeinflussen..

Luc Laboulle
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