leitartikel

„Force in innovation“

d'Lëtzebuerger Land du 21.11.2025

Luc Frieden trägt graue Turnschuhe und ein schwarzes Daunengilet; vor ihm hält ein weißes, fahrerloses Robotaxi von Waymo an. In dem Video, das er auf Instagram hochgeladen hat, befindet er sich in San Francisco. Nachdem er eingestiegen ist, wandelt sich der CSV-Premier zum Beifahrer: Das Lenkrad liegt nicht unter seiner Kontrolle, es liegt nicht in seiner Hand. Als würde ein Geist es führen, dreht es sich nach links und rechts. Frieden wird gefahren – von einer Kraft, deren Antlitz man kaum kennt. „I am the passenger“, dröhnt die Off-Musik auf seinem Insta-Kanal. Die im Video veranschaulichte Beifahrerrolle dürfte jener ähneln, die der luxemburgische Premier vergangene Woche beim Treffen mit Amazon-CEO Andy Jassy innehatte. Eigentlich war Friedens selbsterklärte „Mission“, die „Wirtschaftsbeziehungen zwischen Luxemburg und den Vereinigten Staaten zu stärken“. Doch bereits vor dem Treffen war bekannt geworden, dass Amazon womöglich rund 100 Stellen in Luxemburg abbauen könnte. Seit Dienstag kursiert nun die Zahl von 470 Arbeitsplätzen – eine Zahl, die weder Amazon noch die Gewerkschaften bislang bestätigt haben. Das entspräche etwas mehr als zehn Prozent der Belegschaft.

Immer wieder wird berichtet, dass das Unternehmen einen hohen Leistungsdruck auf seine Mitarbeiter ausübt. Gegenüber dem Land erzählte eine Person, sie habe bei dem US-Unternehmen wegen Burn-out gekündigt. Andere berichten von langen Arbeitsabenden, bedingt auch durch die Zeitunterschiede zum Hauptsitz in Seattle – da sei es schwer, Hobbys nachzugehen. Im Wort berichtete diese Woche ein ehemaliger Mitarbeiter, in spezifischen Leistungssteigerungs-Programmen werde die Messlatte „unglaublich hochgelegt und immer wieder angehoben, sodass man kaum eine Chance hat“, die verlangten Resultate zu erreichen. Zeitweise würden bis zu zehn Prozent der Belegschaft diesen Leistungsmanagement-Modulen unterliegen, die Mitarbeitende scheinbar zur Kündigung motivieren sollen. Auch die angekündigte Entlassungswelle dürfte dem Arbeitsklima bei Amazon nicht zuträglich sein. Viele Blue-Card-Holder aus Indien müssen fürchten vor Weihnachten eine Kündigung im Postfach zu haben. Ihr Visum ist an ihren Arbeitsplatz gebunden; drei Monaten bleibt ihnen dann, um einen anderen Job zu finden, oder das Land zu verlassen.

OGBL-Pressesprecher Olivier Landini sprach am Donnerstag im Quotidien von einem Kündigungsausmaß, wie man es „seit Jahrzehnten“ nicht mehr erlebt habe, es sei eine „soziale Katastrophe“. An diesem Freitag komme der Regierungsrat zusammen, um sich zu beraten, sagte der CSV-Arbeitsminister Georges Mischo seinerseits, und fügte hinzu: „Ich bin wirklich besorgt». Vor einer Woche noch lobte der CSV-Premier nach einem Treffen mit Amazon-CEO Andy Jassy in Seattle, das Unternehmen sei „one of our largest employers, a cornerstone of our economy, and a driving force in innovation.“ Inwiefern Entwicklungen in der KI für die weltweite Entlassung von voraussichtlich 30 000 Mitarbeitern eine Rolle spielen, ist ungewiss. Die New York Times hat sich mit Experten unterhalten, die bisher eine eher indirekte Rolle ausmachen: Der Punkt, an dem aufgrund von KI massenhaft Leute entlassen werden könnten, sei noch nicht erreicht; zudem sei kein direkter Zusammenhang zwischen Teams, die mit neuen Softwaretools arbeiten, und dem Anteil an Entlassungen auszumachen. Es sehe so aus, als wolle Amazon an Personalkosten sparen, um mehr Geld in beispielsweise Rechenzentren zu investieren (dabei hat Amazon letztes Jahr eigentlich einen Gewinn von 21 Milliarden verbucht). Und: Obwohl die Entlassungen heute noch nicht mit Automatisierungsprozessen zusammenhängen, wette man darauf, dass die Entlassenen künftig überflüssig sein werden. Derweil trägt der Premier fast schon roboterhaft seine Message in die Welt; er wolle „Luxemburg als Daten- und Technologie-Zentrum stärken“, wie er während seiner Reise in die USA sagte. Die Kraft, die Premier Frieden jedenfalls am Mittwoch im Griff hatte, hatte ein Antlitz. Die Botschafterin Stacy Feinberg hielt ihn an seiner Hüfte fest.

Stéphanie Majerus
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