Mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht und der „Werteunion“ haben sich in den vergangenen Wochen zwei neue populistische Parteien gegründet, die Fakten schaffen wollen. Eine Analyse

Verfranzt und zugenäht

d'Lëtzebuerger Land du 16.02.2024

Für die einen sind es ornamentale Ränder aus textilen Fäden, die sich an Säumen von Textilien wie Tüchern, Flaggen oder Epauletten befinden, die beim Abreißen oder Einschneiden entstehen oder indem lang überstehende Kettfäden nur gruppenweise verknotet werden. Für andere sind es schlichtweg Fransen. Die Tand oder Tinnef gleichgesetzt werden. Nichts Spektakuläres. Eher hinderlich, wenn man sich verfranzt und dabei den Faden verliert oder wenn es ausfranst und dabei Form und Fasson aufgibt. Dies scheint derzeit die beste Beschreibung für das politische System in Deutschland zu sein: Es verliert an seinen Rändern und Säumen an Fasson, Form und Funktion. Nachdem zunächst Sahra Wagenknecht mit einer Parteineugründung in linkspopulistischen Gefilden punktete, will es ihr nun Hans-Georg Maaßen am rechtspopulistischen bis rechtsradikalen Rand gleichtun.

Manch einer befürchtet bereits Verhältnisse wie einst in der Weimarer Republik und spricht heute schon von einem unregierbaren Land, das unausweichlich und ungehindert auf eine Katastrophe zusteuert. Dabei ist die Zersplitterung der Parteienlandschaft eine Replik auf die Gesellschaftsgenese der letzten Dekade: Der gesellschaftlichen Fragmentierung folgt nun die politische. Partikularinteressen gewinnen Oberhand über Solidarität und Gemeinschaftssinn. Politisch Denkende suchen die Verantwortung dafür in den letzten Regierungsjahren des US-Präsidenten Barack Obama, der – nach dieser Theorie – aufhörte, Politik für das ganze Land – im Sinne der gesamten Gesellschaft – zu machen und sich stattdessen auf Partikularinteressen einzelner Gruppierungen konzentrierte und Minderheitenrechte den Vorrang vor dem gesellschaftlichen Überbau gab. Damit habe er den neuen Duktus für das Wertesystem der Westlichen Welt gesetzt. Wobei die Partikularpolitik in Europa bereits eine Dekade früher begann.

Nun also mit greifbarem Ergebnis im politischen System Deutschlands: dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und der „Werteunion“. Letztere ist – noch – ein eingetragener Verein, der sich als konservatives Sammelbecken in CDU und CSU etabliert hat und sich als Gegenpol zur Politik der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel definiert. Ihre Gallionsfigur ist der frühere Chef des deutschen Inlandsgeheimdienstes Bundesverfassungsschutz Hans-Georg Maaßen. Spätestens mit der Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015 trat er als vehementer Kritiker von Merkel auf, der stets den Markenkern der Christdemokratischen Union gewahrt wissen wollte und dabei vor rechtsradikaler bis rechtsextremistischer Rhetorik nicht zurückschreckte. Er möchte nun aus dem Verein „Werteunion“, der keine offizielle Parteiorganisation von CDU oder CSU ist, zeitnah eine politische Partei aufmachen, die spätestens im Herbst bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen antreten soll, wenn nicht sogar bereits bei der Europawahl Anfang Juni.

Die Bewertung der „Werteunion“ gehen dabei weit auseinander. Manch einer begrüßt die Neugründung und erhofft sich damit eine Zersplitterung und Schwächung der Parteienlandschaft am rechten Rand. „In der Konkurrenz mit der AfD, einer Wagenknecht-Partei und einer CDU, die sich wieder konservativer aufstellt, sehe ich kein Potenzial für eine solche Partei“, so Politikwissenschaftler Frank Decker im Tagesspiegel. Eine Partei in der Nische zwischen AfD und CDU sei nicht attraktiv. „Wähler, die mit der liberalen Merkel-CDU hadern, werden sich auch weiterhin der AfD zuwenden, weil die Wirkung viel größer ist.“ Diese Bewertung setzt jedoch voraus, dass sich die CDU wieder konservativer präsentiert, womit sie sich jedoch manche Regierungsoption verbauen wird. Andere befürchten hingegen eine Stärkung eben dieses, da enttäuschte Wählerinnen und Wähler von CDU und CSU, denen sich die AfD zu stark radikalisiert habe, ein neues Sammelbecken bekämen, das die herbeigesehnte Brandmauer nach rechts zum Einstürzen bringen könnte. Genau dieses Narrativ bedient Maaßen mit Inbrunst. Auf allen Kanälen. In alle Mikrofone, die ihm hingehalten werden.

„Ich bin keiner, der Brandmauern kennt“, sagte er etwa im Interview mit dem konservativen Monatsmagazin Cicero. Und weiter: „Wenn man sich auf gemeinsame Grundpositionen verständigen kann, dann kann man auch mit der AfD oder anderen Leuten einen Deal machen.“ In einem Gespräch mit Welt-TV, dem Fernsehkanal der konservativen Tageszeitung Die Welt, beantwortete er die Frage, ob er etwa in Thüringen auch eine Koalition mit der AfD eingehen werde: „Wir reden mit allen, von links bis rechts. Ob wir uns mal verständigen werden, ist eine ganz andere Frage.“ Die AfD und auch Sahra Wagenknecht würden „einfach frank und frei die Probleme, die wir in Deutschland haben, aussprechen“, so Maaßen weiter. Aber auf der Lösungsebene gäbe es erhebliche Unterschiede. Die „Werteunion“ sage nicht: „Ausländer raus! Stoppt jegliche Zuwanderung nach Deutschland!“, so Maaßen. Sie trete vielmehr für eine Politik mit Augenmaß ein. Die Partei in Gründung wolle vor allem „viel, viel, viel weniger Staat, keine Bevormundung mehr“. Bei der AfD nehme er „wahr, dass deren Lösung ist: durchaus viel Staat, aber nur Staat für Deutsche“.

Auf der einen Seite bemühen sich die Christdemokraten um Gelassenheit. Ruprecht Polenz, ehemaliger Generalsekretär der CDU, sagte gegenüber dem Tagesspiegel: „Falls die Parteigründung gelingt, wird die neue Partei schnell ins Fahrwasser der AfD geraten und sich als deren Steigbügelhalter andienen.“ Andere in der Partei versuchen es mit Spott: „Ein Sektierer gründet seine eigene Politsekte und wird damit auf Augenhöhe mit der Tierschutzpartei und den Grauen Panthern landen“, schrieb Dennis Radtke, Europa-Abgeordneter der CDU, auf X. Die Christdemokraten ließen Taten folgen und der Bundesvorstand beschloss einstimmig, ein Verfahren zum Parteiausschluss gegen Maaßen einzuleiten. Begründet wurde dieses Vorgehen damit, dass der ehemalige Verfassungsschützer gegen die Grundsätze und Ordnung der Partei verstoße und immer wieder: „Sprache aus dem Milieu der Antisemiten und Verschwörungsideologen bis hin zu völkischen Ausdrucksweisen“ gebrauche. Maaßen kontert im Interview mit Cicero selbstbewusst: „Allein in den ersten sieben Stunden, nachdem bekannt wurde, dass sich die Werteunion von den Unionsparteien abspalten könnte, haben über 500 Bürger einen Aufnahmeantrag bei uns gestellt.“ Dem Parteiausschluss kam er mit seinem Austritt zuvor.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums hat Sahra Wagenknecht Fakten geschaffen und ihre linkspopulistische Partei auf die politische Bühne geschickt. „Wir haben diese Partei gegründet, damit diese falsche Politik, damit die Unfähigkeit und Arroganz im Berliner Regierungsbezirk, damit das überwunden werden kann“, erklärte sie in der Pressekonferenz zur Parteigründung Ende Januar in Berlin. Selbstredend versuchte sie umgehend den Protest der Bauern in politisches Kapital umzumünzen: „So können wir mit Menschen, die unsere Lebensmittel produzieren, nicht umgehen. Das ist eine verdammt harte Arbeit.“ Dabei geht es Wagenknecht weniger um verbilligten Agrardiesel, sondern um die Wut, die die Landwirte auf die Straße treibt. Fand diese bislang hauptsächlich bei der AfD ihr politisches Ventil, möchte sich Sahra Wagenknecht von diesem Kuchen eine gehörige Portion abschneiden. Sahra Wagenknecht kennt sich gut mit Wut aus. Über dreißig Jahre hinweg war sie Mitglied einer Partei, die ausschließlich ein Ventil für den Groll der Ostdeutschen war. Ob als SED, dann PDS, Linkspartei und schließlich Linke. Über die Jahre und Jahrzehnte hinweg ging der Partei das Wut- und Grollpotenzial jedoch verloren.

Nun ihr zweiter Anlauf. Vor einigen Jahren ist sie mit einer politischen Bewegung gescheitert, die sich „Aufstehen“ nannte und schnell im Nirgendwo verschwand. Jetzt muss sie liefern, um ihrem eigenen Anspruch zu genügen und ihre Gefolgsleute nicht zu enttäuschen. Ihre Neugründung BSW will an der Europa- und den Landtagswahlen in diesem Jahr teilnehmen. Dafür sollen die knapp 500 Mitglieder von BSW die Bundespartei und Landesverbände aufbauen. Wagenknecht will klein anfangen, um das Risiko zu verringern, dass Glücksritter, Schwärmer und „Agenten“ der AfD Missgunst, Streit und Skandale produzieren, die die Partei bereits in ihren Anfängen zerreiben könnten. Potenzielle Mitglieder werden genau unter die Lupe genommen, ob sie dem Projekt wirklich nützen können. Gelingt dies, könnte sich das BSW bis Jahresende etabliert haben. Sahra Wagenknecht will sich selbst nicht zur Wahl stellen, sondern weiter im Bundestag bleiben und durch die Talkshows der Fernsehsender tingeln, wo sie ihr Programm – ein Gemenge aus linken und rechten Positionen, das es in Deutschland bislang nicht gibt – präsentiert: Deutliche Begrenzung der Migration (rechts) bei spürbarem Ausbau der Sozialleistungen (links), eine abwartende Klimapolitik (rechts), ein Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine (links und rechts) bei gleichzeitiger Anbiederung an Russland (rechts und links). „Viele Menschen können mit diesen Labels links und rechts nicht mehr viel anfangen“, erklärt Wagenknecht anlässlich der Parteigründung.

Meinungsforschungsinstitute geben Wagenknecht mit ihren Prognosen Auftrieb. Denn – und das gilt auch für die „Werteunion“ – verfangen Parteineugründungen nicht bei den Wählern, sind sie schnell Geschichte. Nur der Aussicht auf Erfolgt lockt Unterstützende aus anderen Parteien. Dann kann es ihnen gehen wie mancher Franse, die im Ergebnis der Luftmasche beim Häkeln gleicht.

Martin Theobald
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