Joachim Triers Sentimental Value, gelesen mit Lars Henrik Gass

Fenster oder Spiegel

d'Lëtzebuerger Land du 19.09.2025

Joachim Trier hat sich mit Reprise, Oslo, 31. August und The Worst Person in the World als Chronist einer urbanen Mittelschicht etabliert, deren Krisen von hoher ästhetischer Sensibilität und melancholischem Grundton begleitet werden. Sein neuer Film Sentimental Value führt diese Linie fort – und ist zugleich ein idealer Prüfstein für die Thesen, die der Filmhistoriker Lars Henrik Gass in seinem dichten Essay Objektverlust. Film in der narzisstischen Gesellschaft entwickelt (Berlin: XS, 2025).

Die Geschichte von Triers neuem Film ist rasch erzählt: Nach dem Tod ihrer Mutter treffen sich die entfremdeten Schwestern Nora Borg (Renate Reinsve), eine ehrgeizige Theaterdarstellerin, und Agnes Borg (Inga Ibsdotter Lilleaas), die ein ruhiges Familienleben führt, wieder. Ihr Vater, der einst gefeierte Filmemacher Gustav Borg (Stellan Skarsgård), tritt plötzlich erneut in ihr Leben. Er hat ein semi-autobiografisches Drehbuch geschrieben, das seine Rückkehr ins Rampenlicht ermöglichen soll. Die Hauptrolle bietet er Nora an, die jedoch ablehnt. Die Szene markiert den Kernkonflikt von Sentimental Value: Gustav will über Kunst Nähe herstellen, Nora verlangt Anerkennung ihrer Gefühle. Für ihn ist das Drehbuch ein Brückenschlag, für sie ein Affront. Der Abbruch des Gesprächs leitet ein langes Kreisen um Noras verletztes Ego ein, das durch ein handlungstechnisch gesehen überflüssiges Intermezzo mit Elle Fanning noch befeuert wird. Am Ende nimmt Nora die Rolle doch an – eine vorhersehbare, dramaturgisch ermüdende Entwicklung. Trier verhandelt erneut Fragen von Nähe, Verantwortung und Erinnerung – und interessiert sich weniger für äußere Konflikte als für die Intimität dieser Beziehungen.

Schon darin liegt für Lars Henrik Gass der entscheidende Perspektivwechsel: „Die soziale Praxis Kino, ein kollektives Verhältnis zur Welt, kommt in ihren Bildern selbst zum Ende durch gesellschaftliche und technologische Entwicklungen, die dem Film, dem technischen Artefakt, sein Objekt rauben, den Bezug zur äußeren Wirklichkeit.“ Um die Tragweite dieses Wandels zu begreifen, blickt Gass zurück auf Roberto Rossellinis Viaggio in Italia (1954). Ingrid Bergmans Figur fährt in langen Einstellungen durch Neapel, sieht Arbeiter, Liebespaare, Madonnenstatuen, Leichenwagen. Jeder Blick wird zur Konfrontation mit der Realität, begegnet etwas, das über das eigene Selbst hinausweist – Kino als Fenster zu Erkenntnis. Nicht so in Triers Film: Außen wird Ornament, Innen alles: „Der Film ist nicht mehr der Bezug zu einer fremden Wirklichkeit, […] sondern der Bezug zum Selbst, sein Spiegel.“

Schon in The Worst Person in the World gab es eine prägnante Szene, die diesen Trend sichtbar machte. Die gesamte Umwelt bleibt stehen, während die Protagonistin sich frei bewegt – die Welt erstarrt zur Kulisse ihres Gefühls. Für Gass ist das symptomatisch: Die Welt existiert nicht mehr als eigenständige Realität, sondern nur als Bühne für das subjektive Erleben. Bereits dieser Film erzählte von einer Frau, Anfang dreißig, die zwischen Studienfächern, Jobs und Liebesbeziehungen taumelt. Es sind genau jene Konflikte, die die spätmoderne Gesellschaft an eine Frau dieser Generation richtet: Beruf, Partnerschaft, Selbstverwirklichung, Mutterschaft. Der Film gibt diese Fragen spiegelbildlich an unsere kollektiven Selbstbilder zurück. In dieser Spiegelung liegt seine Attraktivität – und zugleich das, was Gass als Symptom eines narzisstischen Kinos beschreibt. „Der Film“, so Gass, „schildert also nicht Verhältnisse, zu denen eine Haltung erkennbar wird; er ist ihr Ausdruck.“

Sentimental Value übernimmt genau diese Erzählweise, nun allerdings im Familien-Maßstab. Jeder Blick auf die Wände des Hauses ist weniger eine Entdeckung als eine Erinnerung. Die Begegnungen mit dem Vater öffnen keine gesellschaftliche Dimension – sie sind Übungen in Selbstvergewisserung. Kino als ein Spiegelkabinett der Gefühle.

Gass betont, dass Kino historisch ein kollektiver Erfahrungsraum war, der Fremdes erfahrbar machte und so Öffentlichkeit konstituierte. Dagegen bleiben die Realitäten in Sentimental Value auf Distanz. Die Töchter reflektieren ihre Kindheit, die verpasste Nähe zum Vater, die unerfüllten Träume. Doch die Welt draußen – Migration, Arbeit, soziale Milieus – dringt nicht ein. Sie bleibt ausgespart. Damit entspricht der Film dem, was Gass Objektverlust nennt, den Verlust des Bezugs zur äußeren Wirklichkeit: „Vom Kino bleibt der Film übrig, der mediengeschichtlich betrachtet sein Objekt verloren hat, den Bezug zur sozialen Welt.“

Gass beschränkt seine Kritik nicht auf Joachim Trier. Ausdrücklich nennt er auch Wes Anderson, Greta Gerwig, Giorgos Lanthimos oder Ruben Östlund – allesamt Aushängeschilder des Premium-Autorenkinos, vielfach preisgekrönt und vom Feuilleton gefeiert. Doch gerade diese Filme, die als „anspruchsvoll“ gelten, sind für ihn Paradebeispiele eines Kinos, das nur noch „Erlebnismaterie einer narzisstischen Gesellschaft“ bietet. Ob Barbie-Puppenwelt, groteske Satire oder detailversessenes Set-Design – stets spiegelt sich die Gesellschaft selbst, statt Welt erfahrbar zu machen. Dass solche Filme gefeiert werden, erklärt Gass mit einem gesellschaftlichen Wandel: In der spätmodernen Erlebnisgesellschaft werde Kultur „ästhetisiert“ und auf konsumierbare Selbstbilder reduziert. Streaming und soziale Medien verstärkten das noch. Trier evoziert diese Logik unbewusst-
selbstreflexiv in Sentimental Value: Der gealterte Regisseur dreht seinen neuen Film mit Netflix – nicht mehr fürs Kino, sondern gleich für die Plattform. Parallel dazu zeigt eine beiläufige Szene, dass DVDs von Irréversible oder La pianiste nicht mehr angesehen werden können, weil kein Abspielgerät vorhanden ist. Auf der Meta-Ebene wird artikuliert, was Gass als Verlust beschreibt: Das Kino der Zumutung, der Verstörung, wird technisch und kulturell entwertet, während die Streaming-Ästhetik sich als einzig verbleibender Zugang zu Film etabliert: „Das Internet eliminiert den Abstand zum Raum ebenso wie die Logik einer Abfolge […]. Es befördert einen narzisstischen Umgang mit der Welt.“ Sentimental Value fügt sich darin nahtlos ein: Er ist schön anzusehen, elegant erzählt, emotional anschlussfähig – und bleibt zugleich innerhalb der Grenzen des Privaten. Das Resultat ist eine Agonie des Sozialen. Beziehungen erscheinen nur noch als private Arrangements, Konflikte als Fragen der Selbstdeutung.

Man könnte sagen: Rossellini öffnete ein Fenster, Trier stellt einen Spiegel auf. Sentimental Value ist nicht ohne Reiz. Die Schauspieler/innen tragen ihre Rollen mit Intensität, die Inszenierung ist subtil, die Melancholie berührt. Doch wer ihn mit Gass’ Objektverlust liest, erkennt in ihm weniger ein Werk als ein Symptom: die Transformation des Kinos in eine narzisstische Erlebnisform, die nichts mehr von der Welt verlangt und nichts mehr von ihr erzählt. Egal wie man zu Gass’ theoretisch anspruchsvollen und kontroversen Überlegungen steht – der Schärfe seines analytischen Ansatzes ist heute schwerlich etwas an die Seite zu stellen. Genau deshalb hat Objektverlust Gewicht: Er durchbricht den Konsens, dass Festivalerfolg mit Qualität gleichzusetzen sei. Er erinnert daran, dass Kritik mehr sein muss als Affirmation. Solche Streitschriften sind selten geworden – und gerade darum unverzichtbar, wenn Kino nicht allein nach den Maßstäben von Markt, Streaming und Juryurteilen vermessen werden soll.

Marc Trappendreher
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