Der Theatermacher Christoph Schlingensief wusste zielsicher zu provozieren. Vor allem Konservative brachte er zur Weißglut, dekonstruierte den deutschen Nationalstolz und traf mit seinen Videos, Inszenierungen und Installationen meist ins Schwarze: ein Nestbeschmutzer, dessen Kunstaktionen so einfallsreich wie umstritten waren. Seine Aktionen waren stets mutig und meist nicht zu bedeutungsschwer, wie bei manch zeitgenössischem Regisseur wie etwa Milo Rau.
Unvergessen bleibt Schlingensiefs Installation „Ausländer raus!“, ein käfigartiger Container, den er um die Jahrtausendwende in der Innenstadt von Wien arrangierte. Dokumentiert ist diese Aktion heute als Film (Foreigners Out! Schlingensief’s Container. 2001. Österreich. Regie: Paul Poet) im MoMA zu sehen
In Anlehnung an das Konzept der Reality-TV-Show Big Brother und als Kommentar zum fremdenfeindlichen politischen Programm der Parteien Österreichs stellte Schlingensief in Wien einen Container auf, in dem eine Gruppe von Einwanderern zusammengepfercht wurde. Die Ereignisse im Container wurden live im österreichischen Fernsehen übertragen, und die Zuschauer/innen konnten darüber abstimmen, wen sie am wenigsten mochten, um sie aus der Show – und aus ihrem Land – zu wählen: eine partizipative Mitmachaktion, um den Österreicher/innen plastisch ihre eigene Fremdenfeindlichkeit vor Augen zu führen.
Auf der Kunstbiennale in Venedig verwandelte Schlingensief 2011 den deutschen Pavillon, dessen monumental-faschistischen Bau schon zahlreiche Kunstschaffende versuchten, aufzubrechen oder zu verfremden, kurzerhand in eine Kirche der Angst und gewann damit den Goldenen Löwen. Egomania an Stelle von Germania stand zutreffend auf dem deutschen Pavillon.
Das Ende des 20. Jahrhunderts war von einem Rechtsruck in Deutschland geprägt, Asylbewerberheime brannten ... was Schlingensief dazu bewegte, den wideraufkommenden Nationalstolz im Kontext der faschistischen Vergangenheit des Landes zu thematisieren. Sein letzter Akt, bevor er an einer Krebserkrankung verstarb, fand in der Wüste Namibias statt, wo er ein letztes Mal Wagners Musik durch die Überreste des deutschen Kolonialismus hallen ließ.
1999 wurde Schlingensief (1960-2010) vom MoMA PS1 nach New York eingeladen und inszenierte an der Freiheitsstatue die Aktion „Deutschland versenken“. Das mit Absicht gewählte symbolträchtige Datum für die Aktion, der 9. November 1999, war als Verweis auf bedeutende historische Ereignisse in Deutschland gedacht, etwa die Pogromnacht (1938), die Novemberevolution und den Fall der Berliner Mauer.
Schlingensief führte eine rituelle Performance oder in seinen Worten eher eine „Aktion“ durch, bei der er vor der Freiheitsstatue niederkniete und damit an den historischen Kniefall des deutschen Ex-Kanzlers Willy Brandt in Warschau erinnerte. Im Anschluss warf er eine Urne mit der symbolischen „Asche Deutschlands“ sowie einen mit 99 deutschen Alltagsgegenständen gefüllten Koffer in den Hudson River und markierte damit kurz vor Beginn der Jahrtausendwende das sinnbildliche Ende Deutschlands.
Dank der Schenkung seiner Frau, Aino Laberenz, die den Nachlass von Christoph Schlingensief verwaltet, ist das Werk Deutschland versenken nun dauerhaft Teil der Sammlung der Neuen Nationalgalerie. Im Rahmen der neuen Sammlungspräsentation „Zerreißprobe. Kunst zwischen Politik und Gesellschaft. Die Sammlung der Nationalgalerie 1945-2000“ widmet sie Christoph Schlingensief derzeit einen eigenen Raum.
Es zeigt Schlingensief in den Straßen von New York mit einem Schild in der Hand. Damit steht er mal vor der berühmten Treppe des Metropolitan Museum of Art, mal auf dem Times Square und mal vor dem New Yorker Goethe-Institut.
Das Werk ist Teil seines umfassenderen Projekts Deutschlandsuche '99, dessen erste Teile aus einer sechswöchigen Theatertour durch deutsche Städte bestand. Mit diesem von der Wagner Oper Der Ring des Nibelungen inspirierten Projekt strebte er nach einer modernen Version des Siegfried, einem Helden für ein wiedervereintes, globalisiertes Deutschland. Dabei sammelte er – eine weitere Persona seiner selbst – als wagnerianischer Siegfried und Held eines vereinten Landes repräsentative Fundstücke: Es kamen 99 Alltagsgegenstände zusammen. Abgeschlossen wurde diese Deutschlandsuche ’99 dann in New York 1999.
In zwei Interviews, die derzeit in der Neue Nationalgalerie zu sehen sind, betont er, dass er sich ein Bild schenken wollte. Und nun werde diese Vorstellung szenisch improvisiert – in einer Geste, in einer Andeutung. Ergänzt durch unsere Fantasie erkennen wir das größenwahnsinnige Scheitern, den Knall ohne Geräusche wie wohl die Freiheit, immer wieder nicht verstanden zu werden.
In bekannter Schlingensief-Provozier-Manier ist er in einem der Videos als chassidischer Jude verkleidet, trägt die Kluft Orthodoxer als Kostüm und erklärt dabei seine Faszination etwa so: Im Gegenteil zu vielen deutschen Kleinbürgern, hätten orthodoxe Juden feste Regeln, an die sie sich halten würden. „Ist das provokative Aneignung?“, fragt die Journalistin. „Nein“, meint er, zumal seine Kleidung offensichtlich nicht die Codes orthodoxer Juden erfülle.
Unwillkürlich ertappt man sich dabei zu überlegen, wie Schlingensief die Proteste propalästinensischer Aktivist/innen in diesen Tagen eingeordnet und ironisch kommentiert hätte: From the river to the sea, they need a therapy?
Letztlich sind es in der Neue Nationalgalerie Berlin nur zwei Filme und zwei Interview-Filme, die ein Schlaglicht auf Christoph Schlingensiefs (1960-2000) Aktion Deutschland versenken vom 9. November 1999 in New York werfen.
Diese Videos zeigen nur einen Bruchteil seiner größer angelegten Deutschlandsuche ’99 und verdeutlichen doch eindrucksvoll, wie wichtig dieser Theatermacher, ein Wüterich, in seiner präzisen Kritik war. Abgesehen davon, dass sich ein Besuch der neuen Sammlungsausstellung „Zerreißprobe. Kunst zwischen Politik und Gesellschaft. Sammlung der Nationalgalerie 1945-2000“ echt lohnt, ist zumindest für Theateraficionados auch der Raum über Christoph Schlingensief, der den Besucher/innen vor Ort wenig begleitenden Kontext liefert, einen Abstecher wert.