Muss Südkoreas Kulturimperialismus bekämpft werden? Manchen Eltern bereitet der Erfolg von Squid Game Unbehagen: In der Netflix-Serie werden die Verlierer von Kinderspielen erschossen, ihre Organe ausgeschlachtet. Viele denken aber arglos: „Wir haben die Spice Girls aus England und Maustetytöt aus Finnland überlebt – da werden wir auch mit Fräuleins wie Blackpink aus Seoul fertig.“ Bislang sieht das westliche Publikum fasziniert auf Hallyu, auf die „koreanische Welle“. Das quietschbunte Phänomen wird zum Beispiel gerade mit einer Wanderausstellung des V&A Museums gefeiert (bis 17. August in Zürich: rietberg.ch). Die Wucht von Tsunamis wird leicht unterschätzt.
Mit künstlerischer Selbstverwirklichung oder unverkäuflicher Avantgarde haben sich die Südkoreaner nie groß abgegeben. Hallyu steht für glatte Produkte aus der Retorte: minutiös geplant, knallhart kalkuliert, industriell gefertigt. Aus Hunderttausenden Bewerbern werden Jugendliche gecastet. Ein geradezu militärischer Drill macht die Idols dann vielfältig einsetzbar, in K-Pop-Musikgruppen ebenso wie in K-Dramen oder als Werbeträger für K-Beauty, K-Fashion und K-Food. Mit passenden Tourismus-Orten schließt Netflix „business agreements“. Und TikTok klärt die Kinder auf, mit welcher Schneckenschleim-Gesichtscreme sie die makellose Haut ihrer Idols bekommen. Hallyu ist eine reibungslos laufende Maschinerie, die mit Künstlicher Intelligenz nur noch perfekter, noch profitabler werden kann.
Wo hört Kultur auf, wo fängt Product-Placement an? Solche Fragen muss man sich erst einmal leisten können. Mit der asiatischen Finanzkrise von 1997 drohte eine Rückkehr von Armut und Hunger – da brachten CDs und Satelliten-TV, später auch Internet und „soziale“ Medien die Rettung. Der südkoreanischen Regierung fiel auf, dass manche Hollywood-Filme mehr Geld bringen als alle Autos von Hyundai zusammen. Mit einer Soft-Power-Strategie setzte sie auf Kreativwirtschaft. Unter anderem gründete das Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus dafür die „Koreanische Stiftung für internationalen Kulturaustausch“. KOFICE veröffentlicht nun monatlich „Hallyu-Berichte“, weniger oft „Hallyu-White-Papers“, Studien zu den ökonomischen Effekten und Analysen zu einzelnen Ländern. Die staatliche Förderung für die Hallyu-Industries wurde im vergangenen Jahr auf umgerechnet 1,16 Milliarden Euro verdreifacht.
Wie war der Tanz-Workshop in Luxemburgs Maison de la culture coréenne? Online-Kommentare werden von KOFICE weltweit in Echtzeit ausgewertet (kwavebigdata.kr). Von Moldawien bis Fiji ist kein Markt zu klein oder zu diffizil, um nicht systematisch erkundet und maßgeschneidert bedient zu werden. Wenn Miniröcke nicht gehen, geht vielleicht Halal-zertifiziertes K-Streetfood? Im Westen brachte 2012 das YouTube-Video Gangnam Style den Durchbruch. Heute ist Südkorea nach Frankreich der siebtgrößte Kultur-Exporteur der Welt: „cultural content“ für mehr als 14 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Bei Kosmetika hat der Tigerstaat gerade als zweitgrößter Exporteur die USA überholt. Beim Tourismus (16 Millionen Besucher im Jahr 2024) gibt es noch Luft nach oben. Weltspitze ist schon der Schönheits-
tourismus: Nirgendwo gibt es so viele plastische Chirurgen wie in Seoul.
Der Aufstieg zur Supermacht stößt auf Gegenwehr. In Nordkorea wird der Besitz von dekadenten DVDs mit Arbeitslager bestraft. In Japan gibt es eine Kenkanryu-Bewegung („Hass auf die korea-
nische Welle“). Auf den Philippinen trended der Hashtag „#CancelKorea“. Taiwan wird von der Sängerin Jeannie Hsieh verteidigt mit dem Song: „Wir haben keine Girls’ Generation und keine Lady Gaga. Ausländer essen Hamburger, wir essen Gua-Bao…“ Der deutsche Moderator Matthias Matuschik schmähte die Boygroup BTS als „kleine Pisser“. Diese K-Pop-Band macht im Jahr mehr als 4,6 Milliarden US-Dollar Umsatz. Wie weit im Vergleich dazu Bayern3 pisst, weiß man nicht. Der Shitstorm von Millionen Fans bewegte Matuschik jedenfalls dazu, seinen beruflichen Schwerpunkt vorübergehend zu Radio-C nach Luxemburg zu verlagern.
Der K-Hype kann wohl nur von den Koreanern selbst aufgehalten werden. Vielleicht tun sie das auch, denn ihr Turbokapitalismus hat Schattenseiten: In der „World Database of Happiness“ der Erasmus-Universität Rotterdam kommt Südkorea hinter Ruanda nur auf Rang 93 (Luxemburg auf Platz 18, immerhin besser als Belgien). Südkorea hat die mit Abstand höchste Selbstmordrate aller entwickelten Länder – und die niedrigste Geburtenrate. Wenn das so weitergeht, werden bald die meisten Südkoreaner älter als 65 Jahre sein. Vielleicht ist dann Schluss mit Hallyu. Vielleicht verkaufen sie aber auch Rollatoren für gealterte Rapper.